Von Beate Landefeld
Der Kampf um Demokratie war für Lenin unverzichtbarer Teil der Vorbereitung der sozialistischen Revolution. Zum einen, weil in einem Land wie Russland die demokratische Revolution noch ausstand und es auch in entwickelten Ländern noch demokratische Aufgaben zu lösen gab, wozu die Bourgeoisie nicht mehr fähig war. Zum anderen, weil das imperialistische Stadium des Kapitalismus zwar in der Ökonomie die materiell-technische Basis für den unmittelbaren Übergang zum Sozialismus schuf, zugleich aber mit seiner Tendenz zur politischen Unterdrückung nach innen und außen neue Gründe für Demokratiebewegungen produzierte. Nationale und demokratische Befreiungsbewegungen sah Lenin als Teil des weltrevolutionären Prozesses. Zwischen dem revolutionären Kampf um Demokratie und dem Kampf um Sozialismus gab es für ihn keine chinesische Mauer. Beide Etappen sind zwar analytisch zu unterscheiden, aber in der Realität verflechten sich Elemente der einen mit Elementen der anderen. Allein der Grad der politischen und sozialen Formierung des revolutionären Subjekts und das damit erreichbare Kräfteverhältnis entscheiden, wie weit es der zweiten Etappe gelingt, über die erste hinauszuwachsen.[1]
Am Beginn des 20. Jahrhunderts bestand die Bevölkerung im zaristischen Russland zu achtzig Prozent aus Bauern, überwiegend arme Kleinbauern und Landarbeiter. Der Staat forcierte Eisenbahnbau und Schwerindustrie. Adlige Bauern-Unternehmer investierten in Textil- und Nahrungsmittelindustrie. Um 1900 trat Russland in das monopolkapitalistische Stadium ein, als „abhängiger Imperialismus“, dessen Staat und Industrie sich durch Anleihen und Beteiligungen vornehmlich britischer und französischer Banken finanzierten. Die russische Bourgeoisie setzte sich aus Technokraten im Staatsapparat, Managern und Privatkapitalisten zusammen. Sie wollten die kapitalistische Entwicklung mit Reformen beschleunigen. Die häufigen Bauernaufstände und Arbeiterstreiks sahen sie eher als Bedrohung. Die Arbeiterklasse stellte etwa zehn Prozent der Bevölkerung, konzentriert in wenigen industriellen Zentren.
Um die Rückständigkeit des Landes zu verringern, war eine demokratische Revolution nötig, die den Zaren und die adligen Großgrundbesitzer entmachtete und den Bauern Land gab. Lange stritt die revolutionäre Intelligenz, wer die sozialen Träger der Revolution sein würden. Die Narodniki, aus denen die Partei der Sozialrevolutionäre hervorging, setzten auf die Bauern. Vertreter des legalen Marxismus, wie Peter Struve, später Führer der liberalen Partei der Kadetten, sahen die Bourgeoisie als natürliche Trägerin der nötigen Veränderungen. Auch in der 1898 gegründeten, illegalen marxistischen Arbeiterpartei SDAPR, die ab ihrem 2. Parteitag 1903 in die zwei Flügel, Bolschewiki und Menschewiki, gespalten war, drehte sich der Streit um die Frage der Formierung des Subjekts der bevorstehenden Revolution.
Das Kommunistische Manifest hatte 1848 gefordert, „jede revolutionäre Bewegung“ zu unterstützen, in Deutschland die anstehende bürgerliche Revolution, die „Vorspiel einer proletarischen Revolution“ sein könne. In Paris hatte die Bourgeoisie 1848 den Juni-Aufstand der Arbeiter im Blut erstickt. Seitdem war klar, dass die Bourgeoisie aus Angst vor dem Proletariat das Bündnis mit Aristokraten, Monarchen und Diktatoren suchte. Ihre progressive historische Rolle war ausgespielt. Der Übergang zum Imperialismus ließ die bürgerlich-junkerliche Reaktion weiter erstarken. Aus der historischen Erfahrung und der Analyse der Klassenkräfte im Land leiteten die Bolschewiki ab, dass eine demokratische Revolution in Russland nur unter der Hegemonie der Arbeiterklasse und im Bündnis mit den Bauern zum Erfolg führen könne.
In Lenins Schrift Was tun? ging es um die Organisationsfrage. Sie hing mit der Frage der revolutionären Strategie zusammen. Die SDAPR war bis 1902 in großen Streiks und ökonomischen Kämpfen erstarkt. Doch nun war der Ökonomismus, das heißt, die Beschränkung auf „Arbeiterforderungen“ und gewerkschaftliche Aktionen, die Anbetung der Spontaneität und Vernachlässigung der Theorie, das Verabsolutieren „lokaler“ Bewegungen „von unten“ für „greifbare Ziele“ zum Hemmnis geworden für die notwendige Befähigung der Arbeiterklasse, in der bevorstehenden demokratischen Revolution die führende Rolle zu übernehmen. Die SDAPR verstehe es, so Lenin, „Versammlungen von Arbeitern zu veranstalten, die einen Sozialdemokraten hören wollen. Wir müssen es auch verstehen, Versammlungen von Vertretern aller Bevölkerungsklassen zu veranstalten, die nur einen Demokraten hören wollen.“[2]
Hegemonie des Proletariats hieß für Lenin nicht, auf Abkommen mit der liberalen Bourgeoisie zu setzen, die alles andere als konsequent demokratisch war. „Jeder Liberalismus taugt dazu, dass die Sozialdemokratie ihn genau so weit unterstützt, wie er tatsächlich als Kämpfer gegen die Selbstherrschaft auftritt. […] Vom proletarischen Standpunkt aus gehört die Hegemonie im Kriege demjenigen, der am energischsten von allen kämpft, der jede Gelegenheit benutzt, um dem Feind einen Schlag zu versetzen, bei dem Worte und Taten übereinstimmen und der deshalb der jede Halbheit kritisierende ideologische Führer der Demokratie ist.“ Wer glaube, „die Halbheit [sei] eine moralische und nicht eine politisch-ökonomische Eigenschaft der bürgerlichen Demokratie“, liege falsch.[3] Die einzige bis zum Ende demokratische Kraft konnte nur die Arbeiterklasse sein. Sie brauchte aber eine Partei, die sie befähigte, Vorkämpferin zu werden. Das Nur-Gewerkschaftertum lief politisch auf Nachtrab hinter den Liberalen hinaus. Der 2. Parteitag der SDAPR 1903 folgte Lenins Argumenten.
Hegemonie der Arbeiterklasse
Während der Revolution von 1905 zeigte sich die Tiefe der Differenzen. Die Bolschewiki kämpften für eine demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern, eine provisorische Revolutionsregierung, die den Zaren und die Gutsbesitzer stürzen und niederhalten sollte. Zugleich strebten sie das baldige Hinüberwachsen der demokratischen in die sozialistische Revolution an. Wie zu ihrer Zeit Marx und Engels[4] erwarteten die Bolschewiki, der Sturz des Zaren werde zum Signal für proletarische Revolutionen im höher entwickelten Westen und die siegreichen Arbeiter des Westens würden dem rückständigen Russland auf technologischem Gebiet helfen. Im Sommer 1905 charakterisierte Lenin in der Schrift Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution die unterschiedliche soziale Trägerschaft der beiden Etappen:
„Das Proletariat muss die demokratische Umwälzung zu Ende führen, indem es die Masse der Bauernschaft an sich heranzieht, um den Widerstand der Selbstherrschaft mit Gewalt zu brechen und die schwankende Haltung der Bourgeoisie zu paralysieren. Das Proletariat muss die sozialistische Umwälzung vollbringen, indem es die Masse der halbproletarischen Elemente der Bevölkerung an sich heranzieht, um den Widerstand der Bourgeoisie mit Gewalt zu brechen und die schwankende Haltung der Bauernschaft und der Kleinbourgeoisie zu paralysieren.“ [5]
Demgegenüber vertraten die Menschewiki, die Arbeiterklasse solle sich in der demokratischen Revolution auf Arbeiterforderungen, wie den Achtstundentag, das allgemeine Wahlrecht, Vereins- und Pressefreiheit konzentrieren und ansonsten der liberalen Bourgeoisie folgen. Dem lag ein mechanistisches Geschichtsverständnis zugrunde, wonach Russland für eine proletarische Revolution nicht reif sei, sondern zuerst eine Phase des Kapitalismus und der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie durchlaufen müsse. Die Menschewiki erstrebten keine provisorische Revolutionsregierung, sondern wie die Liberalen eine Konstituante. Dem demokratischen Massenkampf begegneten sie mit Skepsis, da er die liberale Bourgeoisie von der Revolution abschrecken könne. 1905 prägten anschwellende Massenstreiks den Revolutionsverlauf. Die Arbeiter forderten den Achtstundentag und die demokratische Republik.
Als der Zar im Oktobermanifest eine legislative Duma zugestand, sah die liberale Bourgeoisie ihre Revolutionsziele erreicht. Doch die Arbeiterklasse setzte die Streiks fort. Sie kulminierten im Moskauer Dezemberaufstand, der nach fünf Tagen niedergeschlagen wurde. Lenin sah in ihm eine neue Stufe der Revolution, die er als „Zerstörung konstitutioneller lllusionen“ bezeichnete. Die Revolution 1905-1907 blieb ein Anlauf. Sie scheiterte, weil die drei Ströme von Aufständen, der Arbeiter, der Bauern und des Militärs noch nicht zu einem großen siegreichen Aufstand zusammenflossen. Lenin sah in ihr später die „Generalprobe für die Oktoberrevolution“. Erstmals entstanden 1905-1907 in vielen Industriegebieten Sowjets, die Lenin 1905 und 1906 als „breites Kampfbündnis der Sozialisten und revolutionären Demokraten“, als „revolutionäre Vereinigungen“, aber auch als „Keimformen einer neuen revolutionären Staatsmacht“ interpretierte, allerdings noch auf die örtliche Ebene beschränkt.[6]
Erst die zweite demokratische Revolution, die Februarrevolution 1917 schuf Sowjets auf breiter Front. Der Kapitalismus war weiter fortgeschritten, das Land durch die Beteiligung am imperialistischen Weltkrieg zerrüttet, das Regime geschwächt. 1916 waren eine Million Soldaten, überwiegend Bauernsöhne, desertiert. Die Bewegungen der Arbeiter, Soldaten und Bauern waren zusammen stark genug, den Zaren zu stürzen. Unter den Sowjets hatte der von Menschewiki und Sozialrevolutionären dominierte Petersburger Arbeiter- und Soldatensowjet die Vorreiterrolle. Er billigte die in der Duma gebildete Provisorische Regierung aus Gutsbesitzern und Kapitalisten. Lenin umschrieb die “höchst originelle, neue, noch nie dagewesene Verflechtung“ als Doppelherrschaft: „Es besteht nebeneinander, zu ein- und derselben Zeit, sowohl die Herrschaft der Bourgeoisie (die Regierung Lwow und Gutschkow) als auch die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft, die die Macht freiwillig an die Bourgeoisie abtritt, freiwillig zu ihrem Anhängsel wird.“[7]
Der Verlauf von Februar bis Oktober 1917 wurde im Jubiläumsjahr 2017 häufig skizziert. Wie die Bolschewiki in den Sowjets die Mehrheit errangen, indem sie den Massen anhand des Gangs der Ereignisse erklärten, dass die größten Probleme des Landes, Hunger, Friedensschluss und Agrarreform, nicht durch die Regierung der Kapitalisten, sondern nur durch Schritte in sozialistischer Richtung zu lösen waren, kann man nachlesen.[8] Für unser Thema ist hervorzuheben: Das Subjekt der Oktoberrevolution formierte sich in hohem Maße im Zuge der praktischen Erfahrung aus zwei demokratischen Revolutionen, in denen die Arbeiterklasse führend war. In diesen beiden Revolutionen entstanden Sowjets als Kampfinstrumente und Keimformen der revolutionären Staatsmacht. Lenin sah in ihnen eine Macht neuen Typs, von der Art der Pariser Kommune, laut Marx der „endlich entdeckte(n) politische(n) Form“, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeiter sich vollziehen konnte.[9]
Erarbeitung marxistischer Positionen zur nationalen Frage
In Westeuropa war die Epoche bürgerlich-demokratischer Revolutionen und der Bildung von Nationalstaaten 1789 bis 1871. In Osteuropa begann diese Epoche erst 1905. „Eben weil und nur weil Russland zusammen mit seinen Nachbarländern diese Epoche jetzt durchmacht, brauchen wir in unserem Programm den Punkt über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, schrieb Lenin 1914 in einer Replik auf Rosa Luxemburg.[10] Im „bunten“ Zarenreich gab es 43 Prozent Großrussen, die gegenüber den 57 Prozent Bürgern anderer Nationalitäten privilegiert waren. Soziale Konflikte vermengten und überlagerten sich mit nationalen Bestrebungen. Das Programm der SDAPR enthielt die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht. Der 2. Parteitag hatte sie 1903 trotz Protesten der polnischen Sozialisten beschlossen. Am Vorabend des Weltkriegs steigerte sich der extreme Nationalismus. Die zaristischen Schwarzhunderter verstärkten ihre antisemitischen Pogrome. Die Liberalen wandelten sich zu Nationalliberalen. In Teilen der SDAPR kam es erneut zu Schwankungen.
Lenin kritisierte Vertreter der liberalen Bourgeoisie, die die demokratische Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht verstümmelten, indem sie es von „Separatismus“ abgrenzten und nur als „kulturelle Autonomie“ auslegten. Er sah darin die verstärkte Kumpanei der Großbourgeoisie mit der Monarchie und den Ausdruck bürgerlich-imperialistischer Interessen. Vom Standpunkt der Arbeiterklasse sei am Kampf für das Recht auf Selbstbestimmung bis zur Loslösung unbedingt festzuhalten, denn die Alternative sei, unterdrückte Nationen mit Gewalt in einem Staat zu halten. Allerdings sei die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung nicht gleichbedeutend mit der Befürwortung einer Loslösung in jedem konkreten Fall, so wie die Anerkennung des Scheidungsrechts kein Aufruf sei, jede Ehe zu scheiden. Forderungen der Demokratie, wie das Selbstbestimmungsrecht, seien nichts Absolutes, sondern ein kleiner Teil der demokratischen Weltbewegung. Es sei möglich, dass in konkreten Fällen der Teil dem Ganzen widerspreche. „Dann muss man den Teil verwerfen.“[11]
Forderungen der Bundisten[12], die für „kulturelle Autonomie“ bis zu eigenen Arbeiterorganisationen eintraten, wies Lenin zurück. Gewiss enthalte jede Nationalkultur Elemente einer demokratischen Kultur, tradiert durch die unterdrückten Klassen. „In jeder Nationalkultur gibt es aber auch eine bürgerliche (und in den meisten Fällen noch dazu erzreaktionäre und klerikale) Kultur, und zwar nicht nur in Form von ‚Elementen‘, sondern als herrschende Kultur.“[13] Letztere diene dazu, die Arbeiter zu entzweien. Dagegen setze die Arbeiterklasse den proletarischen Internationalismus und ihre internationale Verschmelzung. In ihrem Kampf werde sie demokratische Elemente aus allen nationalen Kulturen aufnehmen und sie bereichern. Aus dem differenzierten Klasseninhalt der nationalen Kulturen leitete Lenin ab, dass der Kampf für die Gleichberechtigung der Nationen hauptsächlich negativ zu führen sei, als Kampf gegen die Privilegien unterdrückender Nationen. Darüberhinausgehende positive nationale Ziele führten in der Regel ins Fahrwasser der nationalen Bourgeoisien.
In der Schrift Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage formulierte Lenin 2013 die These von den zwei Tendenzen in der nationalen Frage: „Der Kapitalismus kennt in seiner Entwicklung zwei historische Tendenzen in der nationalen Frage. Die erste Tendenz: Erwachen des nationalen Lebens und der nationalen Bewegungen, Kampf gegen jede nationale Unterdrückung, Herausbildung von Nationalstaaten. Die zweite Tendenz: Entwicklung und Vervielfachung der verschiedenartigen Beziehungen zwischen den Nationen, Niederreißung der nationalen Schranken, Herausbildung der internationalen Einheit des Kapitals, des Wirtschaftslebens überhaupt, der Politik, der Wissenschaft usw. Beide Tendenzen sind ein Weltgesetz des Kapitalismus.“ Das nationale Programm der Marxisten trage beiden Tendenzen Rechnung, „es verficht erstens die Gleichberechtigung der Nationen und Sprachen, die Unzulässigkeit aller wie immer gearteten Privilegien […] und zweitens den Grundsatz des Internationalismus und des unversöhnlichen Kampfes gegen die Verseuchung des Proletariats mit bürgerlichem Nationalismus und sei es auch in seiner verfeinertsten Form.“[14]
Die Tendenz der Internationalisierung bewirkt aber keinen „friedlichen Kapitalismus“, sondern teilt die Welt in unterdrückende und unterdrückte Nationen. Scharf wies Lenin 1916 in seinen Thesen über Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen Positionen der Sozialchauvinisten zurück, die den Imperialismus wegen der Internationalisierungstendenz als politisch „fortschrittlich“ anpriesen. Zwar mache ein zentraler Großstaat objektiv die sozialistische Revolution leichter, doch nur wenn die Sozialisten der unterdrückenden Nation die Freiheit der von ihrem Land unterdrückten Kolonien und Nationen forderten, konnten sie das Vertrauen und die Solidarität der Arbeiter unterdrückter Nationen gewinnen. Die Sozialisten der unterdrückten Nationen wiederum sollten die Einheit mit der Arbeiterklasse der unterdrückenden Nation suchen und sich nicht von der eigenen Bourgeoisie binden lassen. Indem sie die demokratischen Forderungen überall dem sozialistischen Ziel unterordne, bewahre die Arbeiterklasse ihre Selbstständigkeit.
In Anlehnung an Marx‘ Haltung zu Irland und zu den Nationalbewegungen 1848 sah Lenin die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts als Möglichkeit, die Annäherung der Nationen auf nicht-imperialistische Weise zu verteidigen, das heißt, nicht auf dem Wege der Vergewaltigung, sondern der freien Vereinigung der Proletarier aller Länder. Im Sozialismus werde es nicht nur zur Annäherung, sondern zur Verschmelzung der Nationen kommen. Aber es genüge nicht, auf den Sozialismus zu vertrösten. „Wie die Menschheit zur Abschaffung der Klassen nur durch die Übergangsperiode der Diktatur der unterdrückten Klasse kommen kann, so kann sie zur unvermeidlichen Verschmelzung der Nationen nur durch die Übergangsperiode der völligen Befreiung, das heißt Abtrennungsfreiheit aller unterdrückten Nationen kommen.“[15]
„Die sozialistische Revolution ist kein einzelner Akt“
Zu dem Einwand, das Selbstbestimmungsrecht sei im Imperialismus „illusionär“ und „undurchführbar“ argumentierte Lenin, in der Tat könnten Veränderungen auf dem Gebiet der politischen Demokratie die Herrschaft des Finanzkapitals nicht aufheben. Dies mindere aber nicht die Bedeutung der politischen Demokratie als einer freieren und klareren Form der Klassenunterdrückung und der Klassenkämpfe. Es gehe darum, die Massen in den Kampf um demokratische Forderungen einzubeziehen, um sie an die Revolution heranzuführen. „Die sozialistische Revolution ist kein einzelner Akt, keine einzelne Schlacht an einer Front, sondern eine ganze Epoche schärfster Klassenkonflikte, eine lange Reihe von Schlachten an allen Fronten, das heißt in allen Fragen der Ökonomie sowie der Politik, Schlachten, welche nur mit der Expropriation der Bourgeoisie enden können. Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, dass der Kampf um die Demokratie imstande wäre, das Proletariat von der sozialistischen Revolution abzulenken oder auch nur diese Revolution in den Hintergrund zu schieben, zu verhüllen und dergleichen. Im Gegenteil, wie der siegreiche Sozialismus, der nicht die vollständige Demokratie verwirklicht, unmöglich ist, so kann das Proletariat, das den in jeder Hinsicht konsequenten, revolutionären Kampf um die Demokratie nicht führt, sich nicht zum Siege über die Bourgeoisie vorbereiten.“[16]
In seiner 1916 verfassten Studie zum Imperialismus schätzte Lenin diesen als „monopolistischen Kapitalismus“ ein, dessen ökonomische Struktur den Sozialismus materiell vorbereite. Zugleich stimmte er Rudolf Hilferding zu, dass vom Monopol die Tendenz zur politischen Reaktion nach innen und zur Aggression nach außen ausgehe. Doch dies produziere auch Gegentendenzen: „Der Kapitalismus überhaupt und der Imperialismus insbesondere verwandelt die Demokratie zu einer Illusion – und zugleich erzeugt der Kapitalismus demokratische Bestrebungen in den Massen, schafft er demokratische Einrichtungen, verschärft er den Antagonismus zwischen dem die Demokratie negierenden Imperialismus und den zur Demokratie strebenden Massen.“[17] Die zur Demokratie strebenden Massen stellt das Proletariat nicht allein.
Linke, die 1916 im Gleichklang mit der Bourgeoisie den irischen Osteraufstand einen „Putsch“ nannten, kritisierte Lenin: Zu glauben, „dass die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teils des Kleinbürgertums mit allen seinen Vorurteilen, ohne die Bewegung unaufgeklärter proletarischer und halbproletarischer Massen gegen das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische, nationale usw. Unterdrückung – das zu glauben heißt der sozialen Revolution entsagen. Es soll sich wohl an einer Stelle das eine Heer aufstellen und erklären: ‚Wir sind für den Sozialismus‘, an einer anderen Stelle das andere Heer aufstellen und erklären: ‚Wir sind für den Imperialismus‘, und das wird dann die soziale Revolution sein! […] Wer eine ‚reine‘ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution.“[18]
Gewiss lassen sich Lenins Aussagen aus einer Zeit, in der eine revolutionäre Krise heranreifte, nicht eins zu eins auf heute übertragen. Lohnend ist, seine Anwendung der dialektisch-materialistischen Methode auf die damalige Zeit zu verstehen, um heute zu richtigen Analysen und Lösungen ganz ähnlicher Probleme zu kommen.
Zuerst erschienen in Marxistische Blätter 2-2018
[1] LW 9, S. 39ff., 44f. sowie LW 28, S. 301 und LW 33, S. 31f.
[2] LW 5, S. 435f.
[3] LW 8. S. 66
[4] Vgl. den Passus aus der Vorrede zur 2. russ. Ausgabe des Manifests 1882, in: MEW 22, S. 55.
[5] LW 9, S. 90. Halbproletarische Elemente waren Kleinbauern, Landlose, Landarbeiter, Handwerker.
[6] LW 10, S. 56ff., S. 147
[7] LW 24, S. 28
[8] Vgl. Marxistische Blätter 2-2017: 1917-2017 Was war, was wurde, was bleibt
[9] MEW 17, S. 342
[10] LW 20, S. 409
[11] LW 20, S. 7ff. und LW 22, S. 348
[12] Anhänger des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterverbands in Litauen, Polen und Russland
[13] LW 20, S. 8
[14] LW 20, S. 12
[15] LW 22, S. 148
[16] LW 22, S. 144
[17] LW 22, S. 267f. und 302f., LW 23, S. 14
[18] LW 22, S. 363f.

