Deutsche Spaltung und Europastrategie des deutschen Kapitals

Von Beate Landefeld

Kapital muss expandieren, um in der Konkurrenz zu bestehen. Nationale Grenzen wurden dabei von Beginn an überschritten. Englands Rolle als Großmacht beruhte auf seinen Kolonien. Schon 1841, Jahrzehnte vor der Reichsgründung, beschäftigte sich Friedrich List, der erste bedeutende Ökonom des deutschen Bürgertums, mit der „Mitteleuropaidee“. Ausgehend von der geografischen Lage und Größe Deutschlands, bildet sie bis heute den Kern der Europastrategien des deutschen Kapitals. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass Wirtschaftsgroßräume günstigere ökonomische Entwicklungsmöglichkeiten bieten als kleine Länder.

1. Traditionen deutscher Europastrategie

Um den Abstand zum ökonomisch führenden England zu verringern, empfahl List, Holland mitsamt seinen Kolonien „zum Anschluss an den Zollverein zu zwingen“.1 Anzustreben sei eine „Continental-Allianz“, in der später auch England gegen die künftige „amerikanische Übermacht“ Schutz suchen könne. Auch riet List zur Steuerung der deutschen Auswanderung: „[W]ir haben Hinterland (blackwoods) so gut wie die Amerikaner – die Länder an der untern Donau und am Schwarzen Meer – die ganze Türkei – der ganze Südosten jenseits Ungarn ist unser Hinterland.“2 Statt nach Nordamerika auszuwandern, sei es sinnvoller, wenn deutsche Auswanderer „in Brüderschaft mit Ungarn“ Südosteuropa bis zum Schwarzen Meer kolonisierten.

1904 gründeten Volkswirte, Industrielle und Verbände den „Mitteleuropäischen Wirtschaftstag“ mit Filialen in Österreich und Ungarn. Neben diese eher „liberale“ Tradition bürgerlicher Europastrategien trat im Übergang zum Monopolkapitalismus eine reaktionäre, sozialdarwinistische, nach innen und außen aggressivere Linie, gefördert von Kreisen der Schwerindustrie und des Junkertums. Ihre Ideologen sammelten sich im Alldeutschen Verband (1891-1939). Ziele waren deutsche Weltmachtgeltung, der Anschluss deutscher Teile Österreichs und der Schweiz ans Reich und Kolonialbesitz. Militarismus, Chauvinismus, Antisemitismus, Rassismus wurden gefördert.

Nach Beginn des ersten Weltkriegs griffen Großeigentümer und Konzernvertreter beider Richtungen rege in die Kriegszieldiskussion ein, mit Denkschriften, deren Inhalte zum Teil in Reichskanzler Bethmann-Hollwegs „September-Programm“ eingingen.3 Der Schwerindustrie ging es dabei primär um die Eroberung lothringischer und französischer Eisenerzgebiete. Die „Mitteleuropäer“ legten besonderen Wert auf die Südostexpansion. Einer von ihnen, Paul Rohrbach, empfahl, das Russische Reich in seine „natürlichen, geschichtlichen und ethnischen Bestandteile zu zerlegen“ („Orangentheorie“). Im Kriegsverlauf verschmolzen die Ziele beider Gruppen und harmonisierten umso mehr miteinander, „je größer die Siegesaussichten erschienen.“4

Kriegsniederlage und Novemberrevolution führten im staatsmonopolistischen Machtkartell zur Dominanz der „liberalen“ Variante imperialistischer Politik. Ihre Träger waren die „neuen“ Industrien der Elektro- und Chemiebranche. Innenpolitisch setzten sie auf Einbeziehung der SPD in die Regierung. 1931 kam es unter Kanzler Brüning zur Zollunion mit Österreich. Gustav Stolper, prominenter „Mitteleuropäer“ aus Österreich, enger Freund von Theodor Heuss und Kurt Riezler, lobte sie enthusiastisch als „Aufrollung des herrschenden europäischen Systems von der ökonomischen Seite her.“5Frankreich, das den Anschluss Österreichs und eine Hegemonierolle Deutschlands in Mitteleuropa fürchtete, brachte die Zollunion zu Fall.

Hitlers Machtübernahme billigten beide Gruppen. Im Machtkartell wurde nach 1933 die Gruppe der Schwerindustriellen und Großagrarier dominant. 1936 gewann, angesichts eines Roh- und Werkstoffmangels in der Rüstungsproduktion, die Gruppe der Chemieindustrie erneut die Oberhand.6 Nach Kriegsbeginn bedienten sich beide Kapitalgruppen im Zuge der „Arisierungen“ in annektierten und besetzten Ländern. Wie im ersten Weltkrieg schmolzen ihre Kriegszieldifferenzen in Phasen militärischer Erfolge dahin. Zudem beschleunigte der Faschismus ihre Verflechtung untereinander.7 Die nunmehr forcierte „Großraumpolitik“ schloss, über die traditionelle Südostrichtung hinaus, die „Germanisierung“ von Gebieten und Versklavung von Völkern der Sowjetunion bis zum Ural ein.8

Als sich 1944 die deutsche Kriegsniederlage abzeichnete, gingen Versuche, mit den Westmächten zu einem Separatfrieden zu kommen, noch einmal von den „neuen Industrien“ aus, im Vorgriff auf die dann die Nachkriegszeit prägenden Europastrategien der gesamten deutschen Monopolbourgeoisie. Sie setzte nach 1945 auf die gemeinsame Frontstellung mit den Eliten der Westmächte gegen die UdSSR. An die Idee des europäischen Wirtschaftsgroßraums ließ sich dabei nahezu nahtlos anknüpfen. Das Beispiel des Aufsichtsratsvorsitzenden der (zur IG Farben gehörenden) Donau-Chemie Richard Riedl zeigt den Formwechsel, dem die Europaidee dabei unterlag. Riedl verfasste 1943 die Denkschrift „Wege zur Entbolschewisierung und Entrussifizierung des Ostraums“. 1944 schrieb er die Denkschrift „Wege nach Europa“. In ihr warb er für ein freiwilliges Wirtschaftsbündnis europäischer Staaten mit gemeinsamer „Europabank“ und einem gemeinsamen „Europagulden“.9

2. Westintegration und Restauration Hand in Hand

Die Niederlage Nazideutschlands veränderte die internationalen Kräfteverhältnisse tiefgehend. Die USA etablierten sich als stärkste Macht des Kapitalismus. Im Befreiungskampf der europäischen Völker, dessen Hauptlast die UdSSR trug, waren überall antifaschistische Kräfte und kommunistische Parteien erstarkt. Sie leiteten in vielen Ländern revolutionäre Umwälzungen ein. Deutschland wurde in vier Besatzungszonen geteilt. Die Anti-Hitler-Koalition hatte sich 1945 in Potsdam auf die Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Demokratisierung und Dezentralisierung ökonomischer und politischer Macht im Zuge der Neuordnung Deutschlands geeinigt. Das entsprach der Stimmung der Völker. In der deutschen Bourgeoisie löste es Panik aus.

Der 1933 nach New York emigrierte „Mitteleuropäer“ Gustav Stolper klagte, die amerikanische Besatzungsmacht halte 1947 „noch Tausende von Menschen gefangen, deren einziges bewiesenes Verbrechen war, dass sie leitende Stellungen im deutschen Industrie- und Bankwesen bekleidet hatten.“10 1947 gehörte er zur Hoover-Kommission, die Präsident Truman beim deutschen Wirtschaftsaufbau beriet. Stolpers früherer DDP-Parteifreund Reinhold Maier, erster Ministerpräsident Baden Württembergs, beschrieb die Hoffnungen, die die deutsche Bourgeoisie mit Stolper verband: „Wir unterdrückten Freudeäußerungen. Nur wenn die Objektivität dieses Mannes unangetastet blieb, vermochte er sachlich zu unserem Vorteil zu wirken.“11

1947 gingen die USA zur Politik des Kalten Krieges, der Eindämmung und des Rollback des Sozialismus über. In den Besatzungszonen der Westmächte wurden nicht mehr nur unbelastete bürgerliche Emigranten wie Stolper, sondern immer ungenierter frühere Militaristen und Nazis als „Fachleute“ unter dem Vorwand der „Linderung der wirtschaftlichen Not“ wieder eingesetzt. Unternehmerverbände reorganisierten sich unter neuem Namen, um Einfluss zu nehmen. Arbeiterparteien und Antifaschisten bekämpften die Restauration der Kapitalmacht und die Rückkehr ehemaliger Nazis in Wirtschaft und Verwaltung. Sie verwiesen auf gegenläufige Entwicklungen in der SBZ. Dem begegnete die deutsche Bourgeoisie, unterstützt von den westlichen Besatzungsmächten, mit wachsender antikommunistischer Hetze.

Ab 1948 flossen auf Basis des European Recovery Program (Marshall-Plan) Gelder der USA an 16 westeuropäische Länder, die Türkei und die Westzonen Deutschlands. Die Empfängerländer bildeten die Organization for European Economic Cooperation (OEEC) in Paris. Sie sollte die ERP-Mittel verteilen, Handelsbeschränkungen abbauen, „die Wirtschaftspolitik der teilnehmenden Länder koordinieren und die wirtschaftliche Integration in Westeuropa fördern“.12 Die USA wollten mit dem Marshall-Plan einer Ausbreitung des Kommunismus in Europa vorbeugen. Zudem schuf er Nachfrage für Waren der USA und half, ihre Kriegswirtschaft auf Friedenswirtschaft umzustellen. Vor Gründung der BRD etablierte sich mit der OEEC, ein gemeinsamer (west)europäischer Wirtschaftsraum.

Im gleichen Jahr sorgte die separate Währungsreform in den Westzonen und Westberlin, die die Besitzer von Sachwerten begünstigte, für Umverteilung von unten nach oben und den Abbau von Preiskontrollen. Gegen Preiserhöhungen kam es Ende 1948 zu Massenaktionen der Gewerkschaften bis zum Generalstreik. Die KPD forderte die Entmachtung von Kriegsverbrechern und aktiven Nazis, die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien, Mitbestimmung von Betriebsräten und Gewerkschaften in der Sozialpolitik, in Planung, Verwaltung, Erzeugung und Verteilung, Auflösung der alten Wirtschaftsverbände.13 Auf die illegale Einbeziehung Westberlins in die Währungsreform reagierte die UdSSR mit der Berlin-Blockade. Das nutzten die bürgerlichen Medien im Westen, um hysterischen Antikommunismus zu entfesseln und den „Frontstadt“-Mythos Westberlins zu begründen.

Die Besatzungsmächte hatten vereinbart, das Ruhrgebiet als „Waffenschmiede des Deutschen Reichs“ zu entmilitarisieren. Trotz Demontagen übertraf 1948 die Stahlproduktion der Bizone die von Frankreich. 1949 bildeten Frankreich, Großbritannien, die USA und die Beneluxstaaten die „Internationale Ruhrbehörde“ zur Kontrolle der Produktion des Ruhrgebiets an Kohle, Koks und Stahl. Das auch von der SPD damals noch verfolgte Ziel der Sozialisierung der Schwerindustrie unter Mitbestimmung der Gewerkschaften war damit ausgehebelt. Stattdessen kam es zur kapitalistischen „Entflechtung“ durch Ausgliederungen, Tausch und Verkauf von Aktienpaketen. Auf ähnliche Weise wurde die Chemieindustrie „entflochten“.

Das Ruhrstatut wurde 1951 durch die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (Montanunion) abgelöst, einem Kartell der Konzerne der Montanindustrie Frankreichs, der BRD, der Beneluxländer und Italiens. Frankreich erhoffte sich damit Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Schwerindustrie. Die junge BRD wollte sich vom Besatzungsstatus lösen.14 Die EGKS war die Keimzelle der EWG/EU.

3. Kalter Krieg und Westintegration

Ökonomische Spaltungsschritte und Westintegration gingen der politischen Spaltung in Form der Gründung der BRD 1949 voraus. Die Spaltung war weder zwangsläufig noch alternativlos. Sie war von der deutschen Großbourgeoisie gewollt, die darin ihre Chance sah, einer Entwicklung zu entgehen, die die bürgerliche Geschichtsschreibung als „Sowjetisierung“ bezeichnet: einer antifaschistisch-demokratischen Erneuerung, die, bei entsprechenden Kräfteverhältnissen, im Sozialismus münden kann. Diesem Risiko zog die deutsche Bourgeoisie die Option vor, ihre Macht unter den Fittichen der USA zu restaurieren, Akzeptanz und Wiederaufstieg im Schoß der Eliten des „freien Westens“ zu suchen. „Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb,“ beschrieb Adenauer die Entscheidung 1953.

Was mit dem Label „Sowjetisierung“ als erzwungene Fremdsteuerung dargestellt wird, waren demokratisch-antifaschistische Bestrebungen der Bevölkerung, die es nach 1945 in ganz Deutschland gab. In der SBZ wurden sie von der Besatzungsmacht gefördert, in den Westzonen behindert oder verboten. Die Kräfteverhältnisse im Klassenkampf führten zur Bildung des Separatstaates BRD und zur deutschen Spaltung. In diese Kräfteverhältnisse ging die Politik der Besatzungsmächte als eine Komponente mit ein.15

In der SBZ war das Kräfteverhältnis für antifaschistische Umwälzungen vor allem auch deshalb günstiger, da KPD und SPD sich 1946 als Konsequenz aus der Niederlage der Arbeiterbewegung 1933 zu einer einheitlichen Arbeiterpartei, der SED zusammenschlossen. Im Westen unterband die SPD-Führung unter Kurt Schumacher, unterstützt von den Westmächten, alle Vereinigungsbestrebungen. Die Spaltung der Arbeiterklasse schwächte ihre Rolle im Kampf gegen die Restauration.

Die im Osten verlorenen Gebiete gab die deutsche Bourgeoisie mit Gründung der BRD keinesfalls auf. Die Präambel des Grundgesetzes proklamierte dessen Geltung für „das ganze deutsche Volk“ und das Ziel des „vereinten Europa“. Dabei umfasste der Begriff „deutsch“ auch die unter polnischer und sowjetischer Verwaltung stehenden Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße-Grenze. „Dreigeteilt – niemals!“ war eine bekannte Losung nationalistischer Kräfte und starker Vertriebenenverbände.

Mit der Berlin-Krise verschwanden in den bürgerlichen Parteien die 1945 verbreiteten pazifistischen Bekenntnisse und ertönten Rufe nach Wiederbewaffnung. 1949 entstand die NATO als US-geführtes Militärbündnis gegen den Sozialismus. Die Einbeziehung Westdeutschlands in den Militärpakt stand für die USA von vornherein fest, war für sie sogar ein Beweggrund für die Gründung der BRD. Wegen ihrer Gebietsansprüche im Osten und des Viermächte-Status Berlins eignete sich die BRD ideal als Spannungsherd und Rammbock gegen den Osten. Der Rollback-Politiker John Foster Dulles schrieb über Westdeutschland:

„Indem es Ostdeutschland in den Machtbereich des Westens zieht, kann es eine vorgeschobene strategische Position in Mitteleuropa gewinnen, welche die sowjetischen militärischen und politischen Positionen in Polen, in der Tschechoslowakei, in Ungarn und anderen angrenzenden Ländern unterminiert.“16

Gegen die Remilitarisierung gab es in der Bundesrepublik eine starke Bewegung. Die KPD war ein Teil davon. Sie umfasste auch Sozialdemokraten, Gewerkschafter und antimilitaristische Kreise des Bürgertums. Die Bundesregierung reagierte mit Repression. Sie verbot 1951 die Volksbefragung gegen die Militarisierung. Im gleichen Jahr folgte das Verbot der FDJ und die Einleitung des Verbotsverfahrens gegen die KPD. Trotz aufgepeitschtem Antikommunismus, Verhaftungen und Verfolgung stimmten bis zum Verbot der Volksbefragung fast zehn Millionen gegen die Remilitarisierung. 1955 kam es zum NATO-Beitritt und zur Bundeswehrgründung, 1956 zum KPD-Verbot.

Gustav Heinemann, Bundesminister des Inneren in der ersten Regierung Adenauer, der aus Protest gegen die Wiederbewaffnung zurücktrat, beschrieb 1959 die expansionistische Grundlinie der Adenauer-Ära wie folgt:

„An die Politik der Zurückrollung des Kommunismus Anschluss zu gewinnen und sich für sie durch Aufrüstung und Kalten Krieg, insbesondere von Westberlin aus, zur Verfügung zu stellen, wurde Leitgedanke der Bonner Politik. Die Sowjetunion sollte zur Räumung Deutschlands gezwungen werden, um damit Platz für eine Ausdehnung alles dessen zu schaffen, was sich unter Dr. Adenauer in schmählicher Verleugnung des Ahlener Programms von 1947 an wiederbelebter alter Gesellschaftsordnung in Westdeutschland entwickelte. Den Weg dorthin sollte die engste Anlehnung an den ‚stärksten Bundesgenossen aller Zeiten‘, die USA, bahnen. Diese enge Anlehnung an Amerika wurde als Voraussetzung für ein Auftreten gegenüber dem Osten aus einer ‚Position der Stärke‘, für eine ‚Befreiung der besetzten deutschen Gebiete‘, ja sogar für eine Neuordnung der Verhältnisse in Osteuropa propagiert.“17

4. Entspannungsphase und zweiter Kalter Krieg

Bis in die 1960er Jahre schrieb man den Namen des zweiten deutschen Staates, der DDR, in Gänsefüßchen. Nach der „Hallstein-Doktrin“ stufte die Bundesregierung die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR durch Drittstaaten als „unfreundlichen Akt“ ein. Im Fall Jugoslawiens und Kubas brach sie die Beziehungen ab. Doch im Zuge des Zusammenbruchs des Kolonialsystems entstanden immer mehr Länder, die die DDR anerkannten. Zudem gingen nach der Kuba-Krise 1962 US-Präsident John F. Kennedy und der Staatschef der UdSSR Nikita Chruschtschow zur Politik der Entspannung über. Die BRD lief Gefahr, sich international zu isolieren.

Im Bonner Bundestag begriff zuerst die SPD den Geist der neuen Zeit, während die Hauptpartei des Monopolkapitals CDU/CSU an der Politik der Stärke festhielt. Erst 1972 passte sich, unter dem Druck der Friedensbewegung, nach heftigen Auseinandersetzungen bis hin zum Misstrauensantrag gegen die Brandt/Scheel-Regierung, der Bundestag den Realitäten an und es kam zur Anerkennung der Grenzen zu Polen und zur DDR. Die Entspannungspolitik hob die kapitalistische Expansionstendenz Richtung Osten nicht auf, unterzog sie aber einem Formwandel: statt Rückeroberung, „Wandel durch Annäherung“ (Egon Bahr).

Mit der Auflösung der UdSSR 1991 und dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus sah sich der Westen als Sieger im Kalten Krieg. In den USA sprachen die Ideologen der Neocons vom „Sieg der liberalen Demokratie“, vom „Ende der Geschichte“ und vom „neuen amerikanischen Jahrhundert“. Heute bezeichnet man diese Phase als „unipolaren Moment“. Sie dauerte bis zur Krise 2008ff. Um die Krise zu bewältigen, musste China in die globale Regulierung einbezogen werden.

China hatte auf dem Hintergrund der Spaltung des Kommunismus seit 1971 seine Beziehungen zu den USA verbessert und 1978 die „Politik der Öffnung und Reform“ eingeleitet, in deren Verlauf das Land zum begehrten Investitionsstandort der Großkonzerne der USA und anderer kapitalistischer Länder wurde. China bewahrte seine Wirtschaftssouveränität als Voraussetzung für die Organisierung eines Technologietransfers mittels des Aufstiegs von der Low-End zur High-End-Produktion innerhalb der Wertschöpfungsketten internationaler Konzerne.

Der deutsche Imperialismus profitierte vom „unipolaren Moment“ besonders stark. Die Einverleibung der DDR stärkte seine Dominanz in der EU. Die Ostexpansion von EU und NATO ermöglichte eine weitgehende Realisierung alter Träume vom „europäischen Wirtschaftsgroßraum“. Die Ostexpansion erfolgte aus einer Position der Stärke, die es erlaubte, Russlands Sicherheitsinteressen zu ignorieren. Die Expansion verlief keineswegs nur „friedlich“. Sie schloss Konfrontationen, Kriege und Regime Changes ein, vom Jugoslawienkrieg, über Belarus, bis zur Ukraine.

Während des unipolaren Moments überwog in der Politik des Westens gegenüber Russland und China zunächst eine Strategie der Integration in das US-geführte, imperialistische Weltsystem. Russland war die Rolle eines Rohstofflieferanten und Absatzmarkts für westliche Waren zugedacht. Auf Chinas großem Markt mussten Kapitalisten präsent sein. Sie setzten auf weitere „Liberalisierung“. Nach 2000 bremste Putin den Ausverkauf russischer Ressourcen an westliches Finanzkapital. Putins Verteidigung der Souveränität der Russischen Föderation und Chinas Aufstieg bewirkten den Strategiewechsel der USA von einer Strategie der Integration zu einer erneuten Strategie der Eindämmung und des Rollback, zu einem neuen Kalten Krieg. Die politische Klasse der BRD zog 2013 mit der Studie „Neue Macht – neue Verantwortung“ des German Marshall Fund und der Stiftung Wissenschaft und Politik nach.

Der Ukrainekrieg ab 2014 und erneut seit 2022 zielt seitens NATO und EU auf die Fortsetzung ungehinderter Ostexpansion. Mitte 2022, als man die ukrainische Bandera-Armee auf der Siegerstraße wähnte, kursierten in transatlantischen Außenpolitik-Magazinen und auf einer illustren Konferenz im EU-Gebäude in Brüssel erneut Pläne zur Aufteilung Russlands nach Putins Sturz.18 Das Muster blieb Rohrbachs Orangen-Theorie aus dem ersten Weltkrieg. Ende 2023 zeichnet sich die Niederlage der NATO-Proxy-Armee in der Ukraine ab. Zwar reagiert EU-Chefin von der Leyen mit beschleunigten Beitrittsverhandlungen der Ukraine und einiger Balkanländer und kündigt Bundeskanzler Scholz die Verdoppelung der deutschen Militärhilfe in einem langen Krieg an, aber der Ukraine gehen die Soldaten und die Munition aus.

Russland scheint die Ostexpansion – wieder einmal – gestoppt zu haben. Die USA sind nicht mehr der „stärkste Bundesgenosse aller Zeiten“, von dem Gustav Heinemann 1959 sprach, seine Bonner CDU-Kollegen ironisch zitierend.

Der Beitrag erschien zuerst in Marxistische Blätter 1-2024


  1. Friedrich List, Das nationale System der Politischen Ökonomie (1841), in: Reinhard Opitz (Hrsg.), Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945, 1994, S. 52. [Abkürzung: Europastrategien] ↩︎
  2. Friedrich List, Die Ackerverfassung, die Zwergwirtschaft und die Auswanderung (1842), in Europastrategien, S. 61. ↩︎
  3. Denkschrift Hermann Röchlings betr. französische Erzgebiete, Kriegszieldenkschrift Walther von Rathenaus an Bethmann-Hollweg, Kriegsziel-Richtlinien Bethmann-Hollwegs, Denkschrift von August Thyssen, u.a., in Europastrategien, S. 211ff. ↩︎
  4. Reinhard Opitz, Einleitung zu Europastrategien, S. 31f. ↩︎
  5. Ebenda, S. 35 ↩︎
  6. Eberhard Czichon, Der Primat der Industrie im Kartell der nationalsozialistischen Macht, in: Das Argument 47 (1968), S. 173ff. ↩︎
  7. Reinhard Opitz, Einleitung zu Europastrategien, S. 38 ↩︎
  8. Vgl. Dokumente ab Juli 1941 zur Neuordnung des Ostens, in Europastrategien, S. 812ff. ↩︎
  9. Europastrategien, S. 948ff., S. 990ff. ↩︎
  10. Gustav Stolper, German Realities (1948), in: Europastrategien, S. 1018f. ↩︎
  11. Reinhold Maier, Ein Grundstein wird gelegt. Die Jahre 1945-1947 (1964), in: Europastrategien, S. 1014. Maier war 1957-1960 FDP-Bundesvorsitzender. ↩︎
  12. Gerd Hardach, Der Marshallplan, 1994, S. 101 ↩︎
  13. Max Reimann, Entscheidungen 1945-1956, 1973, S. 114 ↩︎
  14. Andreas Wehr, Die Europäische Union, 2012, S. 18ff. ↩︎
  15. Rolf Badstübner / Siegfried Thomas, Entstehung und Entwicklung der BRD, Restauration und Spaltung 1945-1955, S. 217ff. und 317ff. ↩︎
  16. John Foster Dulles, Krieg oder Frieden, 1950, S. 163 ↩︎
  17. Gustav Heinemann, Stimme der Gemeinde, 15.4.1959, S.153 ↩︎
  18. Casey Michel, Decolonize Russia, in: The Atlantic vom 27. Mai 2022 ↩︎

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