„Die politischen Parteien sind der Reflex und die Nomenklatur der Gesellschaftsklassen. Sie entstehen, entwickeln sich, lösen sich auf, erneuern sich, je nachdem, ob die einzelnen Schichten der kämpfenden Gesellschaftsklassen Verschiebungen von wirklich geschichtlicher Tragweite unterliegen, ihre Existenz- und Entwicklungsbedingungen radikal verändert sehen, eine größere und klarere Bewusstheit ihrer selbst und der eigenen vitalen Interessen erwerben.“[i] Gramsci schrieb dies 1920 in einer Phase großer Umbrüche im Parteiensystem Italiens. Bürgerliche Parteien zersetzten sich. Kampfbünde entstanden. Es gab Zeichen für den kommenden Übergang der konstitutionell-parlamentarischen Monarchie zur Diktatur. Die italienische Kommunistische Partei war dabei, sich aus der Sozialistischen Partei heraus zu formieren.
Schon Marx charakterisierte in seinen politischen Schriften die Parteien anhand der sozialen Klassen und Schichten, aus denen sie hervorgingen und die sie vertraten. Seine Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte über die Phasen der 1848er Revolution in Frankreich ist auch eine Studie über die Parteien der Zweiten Französischen Republik. Sie bildeten sich aus den Elementen, „die die Revolution vorbereitet oder bestimmt hatten, dynastische Opposition, republikanische Bourgeoisie, demokratisch-republikanisches Kleinbürgertum, sozial-demokratisches Arbeitertum“. Alle fanden „ihren provisorischen Platz in der Februar-Regierung“.[ii]
Parteien der dynastischen Opposition waren Legitimisten und Orleanisten. Erstere wollten die Bourbonen an der Spitze einer konstitutionellen Monarchie sehen. Die Orleanisten waren Anhänger des Hauses Orleans, aus dem der gestürzte „Bürgerkönig“ Louis Philippe kam. Marx sah in ihnen zwei Fraktionen der Bourgeoisie. Die Legitimisten vertraten das vollständig verbürgerlichte große Grundeigentum „mit seinen Pfaffen und Lakaien“, die Orleanisten die hohe Finanz, Großindustrie und Großhandel, laut Marx „das Kapital mit seinem Gefolge von Advokaten, Professoren und Schönrednern“. An der Stelle merkte Marx zur Methode der Analyse an:
„Was also diese Fraktionen auseinanderhielt, es waren keine sogenannten Prinzipien, es waren ihre materiellen Existenzbedingungen, zwei verschiedene Arten des Eigentums […], die Rivalität zwischen Kapital und Grundeigentum. Dass gleichzeitig alte Erinnerungen, persönliche Feindschaften, Befürchtungen und Hoffnungen, Vorurteile und Illusionen, Sympathien und Antipathien, Überzeugungen, Glaubensartikel und Prinzipien sie an das eine oder das andere Königshaus banden, wer leugnet es? Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Das einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, dass sie die eigentlichen Bestimmungsgründe […] seines Handelns bilden. […] Und wie man im Privatleben unterscheidet zwischen dem, was ein Mensch von sich meint und sagt, und dem was er wirklich ist und tut, so muss man noch mehr in geschichtlichen Kämpfen die Phrasen und Einbildungen der Parteien von ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellungen von ihrer Realität unterscheiden.“[iii]
Einbildungen und Interessen
Die dritte Bourgeois-Fraktion waren die republikanischen Bourgeois. Innerhalb der Bourgeoisie, deren Masse royalistisch eingestellt war, waren sie eine Minderheit. Ihre Zeitschrift National spielte in der Oppositionsbewegung gegen den „Bürgerkönig“ vor 1848 eine wichtige Rolle. Laut Marx waren sie aber „keine durch große gemeinsame Interessen zusammengehaltene und durch eigentümliche Produktionsbedingungen abgegrenzte Fraktion der Bourgeoisie“, sondern eine Clique aus „republikanisch gesinnten Bourgeois, Schriftstellern, Advokaten, Offizieren und Beamten“, die die Antipathien gegen Louis-Philippe, positive Erinnerungen an die alte Republik und vor allem nationalistische und imperialistische Stimmungen zu nutzen verstanden.[iv]
Die Arbeiterschaft war in der Provisorischen Regierung durch Louis Blanc und Alexandre-Albert Martin vertreten. Die Arbeiter spielten bei der Durchsetzung der Revolution eine treibende Rolle. Ihre Ziele waren die Republik, allgemeines Wahlrecht und eine neue „Organisation der Arbeit“. Doch das Pariser Proletariat suchte, so Marx, „sein Interesse neben dem bürgerlichen durchzusetzen, statt es als das revolutionäre Interesse der Gesellschaft selbst zur Geltung zu bringen“.[v] Im Juni 1848 wurde ein Arbeiteraufstand gegen die Schließung der Nationalwerkstätten im Blut erstickt. Danach wurden die Arbeiterführer verfolgt, in die Illegalität oder Emigration gedrängt.
Die Partei des demokratischen Kleinbürgertums nannte sich Montagnards (Bergpartei) nach dem Vorbild der Jakobiner. Der sozialen Basis nach waren sie „Caféwirte, Restauranten, marchands de vins, kleine Kaufleute, Krämer, Professionisten usw.“ Nach der Juni-Niederlage der Arbeiter sah sich die Masse der Kleineigentümer den Drohbriefen der Kreditgeber ausgesetzt: „Verfallener Wechsel! Verfallener Hauszins! Verfallender Schuldbrief! Verfallene Boutique! Verfallener Boutiquier!“[vi] Prozesse der Prekarisierung im Kleinbürgertum, die „brutale Geltendmachung der Interessen der Großbourgeoisie“ bewirkten 1849 die Annäherung und Vereinigung der sozialen und demokratischen Partei, zur „sozialdemokratischen Partei, d.h. zur roten Partei“.[vii]
Charakteristisch für diese Sozialdemokraten war nach Marx, „dass demokratisch-republikanische Institutionen als Mittel verlangt werden, nicht um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, beide aufzuheben, sondern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln.“ Sie wollten „die Umänderung der Gesellschaft auf demokratischem Wege, aber eine Umänderung innerhalb der Grenzen des Kleinbürgertums.“ Zum Verhältnis zwischen materiellen Interessen und politisch-ideologischen Vorstellungen schrieb Marx, man solle nicht die bornierte Vorstellung hegen,
„als wenn das Kleinbürgertum prinzipiell ein egoistisches Klasseninteresse durchsetzen wolle. Es glaubt vielmehr, dass die besonderen Bedingungen seiner Befreiung die allgemeinen Bedingungen sind, innerhalb deren allein die moderne Gesellschaft gerettet und der Klassenkampf vermieden werden kann. Man muss sich ebenso wenig vorstellen, dass die demokratischen Repräsentanten nun alle shopkeepers sind […] Was sie zu Vertretern des Kleinbürgers macht, ist, dass sie im Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen, worüber jener nicht im Leben hinauskommt, dass sie daher zu denselben […] Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jenen das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten.“[viii]
Die große Masse der französischen Bevölkerung lebte zu der Zeit als Parzellenbauern auf dem Lande. Marx beschrieb sie als „einfache Addition gleichnamiger Größen“. Ihre Produktionsweise isoliere sie voneinander. Sofern ihre gleichen Interessen „keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen“ erzeugten, kam es auch zu keiner Klassenbildung und Geltendmachung von Klasseninteressen. Stattdessen wählte die Masse der konservativen Bauern im Dezember 1848 Napoleon Bonaparte, aufgrund sentimentaler Erinnerungen an Napoleons Onkel, aus nationalistischer Schwärmerei sowie aus Verachtung für Finanzkapital, Parlament und Bürokratie.[ix]
Linke Mehrheiten?
Auch Rosa Luxemburg beurteilte die Parteien nach ihrem Klassencharakter. 1912 kritisierte sie Illusionen der SPD-Führung, ein Wahlabkommen mit der Fortschrittspartei könne den „schwarz-blauen Block“ aus Konservativen, Nationalliberalen und Zentrum „sprengen“ und eine „linke Mehrheit“ im Reichstag bewirken. Der schwarz-blaue Block, so Luxemburg, sei nicht nur eine gewisse Zahl von Abgeordneten. Er sei ein „politisches System“, das „in den wirtschaftlichen Verhältnissen, in der bestimmten Entwicklung der deutschen Bourgeoisie, in der Übermacht des Junkertums, in der Zusammenballung des Großkapitals der schweren Industrie“, im „Hass und der Angst vor der wachsenden Macht des Proletariats“ und in der internationalen imperialistischen Entwicklung fest verankert sei.[x] Nicht mehr Parlamentssitze, nur die „gewaltige Machtentfaltung des Klassenkampfs“ könne die Reaktion besiegen.
In den russischen Revolutionen 1905 bis 1921 analysierte Lenin den Klassencharakter der gegnerischen Parteien wie auch potentieller Verbündeter in jeder Phase. In ‚Was tun?‘ thematisierte er 1902 Herausforderungen, denen sich die revolutionäre Arbeiterpartei stellen musste. Er bekämpfte den Ökonomismus, die Beschränkung auf vermeintliche „Arbeiterpolitik“, und plädierte für eine Arbeiterpartei, die das Proletariat befähige, in der bevorstehenden demokratischen Revolution die hegemoniale Rolle einzunehmen. Überließe man die Hegemonie der liberalen Bourgeoisie, werde die Revolution scheitern. Die Arbeiterklasse müsse die Führung übernehmen und im Bündnis mit den Bauern, die die Mehrheit stellten, eine neue Ordnung begründen.
Berühmt ist Lenins Charakterisierung der Doppelherrschaft nach der Februarrevolution 1917. Die Provisorische Regierung gebildet aus den Kadetten, dem Oktobristen Gutschkow und dem Trudowiki Kerenski war die Regierung der Gutsbesitzer und Kapitalisten.[xi] Ihr stand der Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten gegenüber, in dem Menschewiki und Sozialrevolutionäre dominierten. Die Sowjets waren die „Keimform einer echten Volksregierung“. Klassenbasis war „das Proletariat und die (in den Soldatenrock gesteckte) Bauernschaft“. Doch sie hatten ihre Macht freiwillig an die Regierung der Bourgeoisie abgetreten. Lenin sah den Grund im zu geringen Bewusstseins- und Organisationsniveau der Proletarier und Bauern.
Der „Fehler“ ihrer Führer war ihr kleinbürgerlicher Standpunkt, ihre Förderung kleinbürgerlicher Illusionen, die die Massen nicht vom Einfluss der Bourgeoisie befreiten. Daher war es nötig, in den Organen der Sowjets um Mehrheiten zu kämpfen und zugleich zu fordern, dass die Sowjets die ganze Macht im Staat übernehmen.[xii] Bis zum Herbst gelang es, die Arbeiter- und Bauernmassen zu überzeugen, dass die größten Probleme (Beendigung des Krieges, Agrarreform, Überwindung des Hungers) nur auf dem Weg der Bolschewiki zu lösen waren. Das soziale Bündnis der klassenbewussten Arbeiter mit den armen Bauern reflektierte sich auf dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongress in der Mehrheit für Bolschewisten und linke Sozialrevolutionäre.
Die Frage, wie Parteien entstehen und im Staat um die Hegemonie kämpfen, untersuchte auch Antonio Gramsci. In seinen Gefängnisheften unterschied er drei Ebenen oder Momente von Kräfteverhältnissen: (1) Die gesellschaftliche Ebene der Kräfteverhältnisse ist eng an die ökonomische Basis [Struktur] gebunden. Sie betrifft die Klassenverhältnisse auf der Basis des Entwicklungsgrads der Produktivkräfte. Dazu gehört der Stand der Industrialisierung, die Verteilung der Bevölkerung zwischen Stadt und Land, die Größe wichtiger Berufsgruppen und sozialer Schichten, etc.
(2) Das zweite Moment, die politischen Kräfteverhältnisse reflektiert sich im Grad „an Homogenität, Selbstbewusstsein und Organisation, den die gesellschaftlichen Gruppen erreicht haben.“ Das hierbei erreichte Niveau kann sich auf die Vertretung berufsständischer, ökonomischer oder anderer kollektiver Partikularinteressen beschränken, aber auch das Bewusstsein einschließen, „dass die eigenen korporativen Interessen in ihrer gegenwärtigen und künftigen Entwicklung den […] Umkreis einer bloß ökonomischen Gruppe überschreiten und zu Interessen anderer untergeordneter Gruppen werden können und müssen.“ Erst dann werden, so Gramsci, keimhafte Ideologien zur „Partei“ und entbrennt der Kampf um Hegemonie.
Sich-Bilden und Überwunden-Werden instabiler Gleichgewichte
Eine Partei oder Kombination von Parteien, die im Kampf um Hegemonie das Übergewicht erlangen und halten will, wird den Staat als ihrer eigenen Expansion dienlichen Organismus betrachten, aber sie wird ihr eigenes Interesse als das allgemeine oder nationale Interesse ausgeben und mit den Interessen der untergeordneten Gruppen stets aufs Neue abstimmen, so dass es zu einem ständigen „Sich-Bilden und Überwunden-Werden instabiler Gleichgewichte“ zwischen den Interessen der herrschenden und denen der untergeordneten Gruppen kommt, „Gleichgewichte, in denen die Interessen der grundlegenden Gruppe überwiegen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt, also nicht bis zum nackten korporativ-ökonomischen Interesse.“[xiii]
(3) Als dritte Ebene der Kräfteverhältnisse sah Gramsci das militärische Moment, „das jedes Mal unmittelbar entscheidend ist.“ Es enthält eine militärisch-technische und eine militärisch-politische Komponente. Die zweite kann die Effektivität der ersten schwächen oder stärken. Laut Gramsci schwankt die Geschichte stets zwischen dem ersten und dritten Moment der Kräfteverhältnisse, während das zweite zwischen beiden vermittelt. Entwicklungen der gesellschaftlichen Struktur bringen also widersprüchliche Gruppierungen hervor, deren Kämpfe um Hegemonie am Ende durch das militärische Moment für eine relativ dauerhafte Periode entschieden werden.
Die politische Herrschaft einer Klasse funktioniert laut Gramsci mittels „Hegemonie gepanzert mit Zwang“. Bekannt ist die Formel: Staat = Hegemonie + Zwang. Das Verhältnis zwischen beiden Polen variiert. In stabilen Phasen überwiege die Hegemonie den Zwang, in Krisen verhalte es sich umgekehrt. Jedenfalls herrsche eine Klasse nie allein durch Zwang, sondern immer auch mittels eines mehr oder weniger großen Konsenses der Beherrschten. Den Konsens zu organisieren, obliege den Intellektuellen. Unter Intellektuellen ist in diesem Kontext nicht eine soziale Schicht mit akademischen Titeln zu verstehen. Gramsci unterschied zwei große Gruppen von Intellektuellen, die organischen Intellektuellen und die traditionellen Intellektuellen.
Jede gesellschaftliche Klasse, die aufgrund einer wesentlichen Funktion in der Produktion entstehe, schaffe sich „zugleich organisch eine oder mehrere Schichten von Intellektuellen, die ihr Homogenität und Bewusstheit […] nicht nur im ökonomischen, sondern auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich geben“. Zentrales Element sind dabei die Parteien. Die Behauptung, alle Mitglieder einer Partei seien Intellektuelle, löse Spott aus. Doch sei nichts richtiger. Es komme auf die Funktion an, und diese sei in Parteien eine der Führung und der Organisation, also eine erzieherische und intellektuelle. „Geschichtlich bedeutet das Selbstbewusstsein die Hervorbringung einer Avantgarde von Intellektuellen: eine ‚Masse‘ unterscheidet sich nicht und wird nicht ‚unabhängig‘, ohne sich zu organisieren und es gibt keine Organisation ohne Intellektuelle, das heißt ohne Organisatoren und Führer.“[xiv]
Als traditionelle Intellektuelle bezeichnete Gramsci gebildete Vertreter überlieferter Einrichtungen aus früheren Gesellschaftsstrukturen. Als Beispiel nannte er die „Kirchenmänner“, die ursprünglich die organischen Intellektuellen der grundbesitzenden Aristokratie gewesen seien und mit der Kontinuität der Kirche in der bürgerlichen Gesellschaft weiterhin wirksam seien. Ebenso zählte er gewisse Formen von Amtsträgern und Spezialisten zu dieser Intellektuellenkategorie. Ein Merkmal historisch aufsteigender sozialer Klassen sei ihr Kampf um die Assimilierung und ideologische Eroberung der traditionellen Intellektuellen, die umso wirksamer sei, „je mehr die gegebene Gruppe gleichzeitig ihre eigenen organischen Intellektuellen heranbildet“.[xv]
Gramsci prägte den Begriff des integralen Staats. Er umfasst die Staatsapparate im engeren Sinne (Verwaltung, Justiz, Polizei, Heer, etc.) und zugleich Einrichtungen und Organisationen der Zivilgesellschaft (Kirchen, Familien, Schule, Universität, Vereine, Parteien, Denkfabriken, etc.) In den Staatsapparaten wie auch in der Zivilgesellschaft seien Intellektuelle „die ‚Gehilfen‘ der herrschenden Gruppe bei der Ausübung der subalternen Funktionen der gesellschaftlichen Hegemonie und der politischen Regierung, nämlich: (1) des ‚spontanen‘ Konsenses, den die großen Massen der Bevölkerung der von der herrschenden grundlegenden Gruppe geprägten Ausrichtung des gesellschaftlichen Lebens geben […]; (2) des staatlichen Zwangsapparats, der ‚legal‘ die Disziplin derjenigen Gruppen gewährleistet, die weder aktiv noch passiv zustimmen, der aber für die gesamte Gesellschaft in der Voraussicht von Krisenmomenten […], in denen der spontane Konsens schwindet, eingerichtet ist.“[xvi]
Geist der Abspaltung
Die vielfältigen Institutionen der Zivilgesellschaft, über die der integrale Staat zu Gramscis Zeit schon verfügte und die es ihm ermöglichten, genügend große Teile der Bevölkerung in das bestehende Herrschaftssystem zu integrieren, bezeichnete Gramsci als „massive Struktur“, die den Schützengräben und Befestigungsanlagen der Front im Stellungskrieg ähnlich sei. Eine verändernde, nach neuen Hegemonie- und Machtverhältnissen strebende Kraft müsse diese Befestigungen Zug um Zug einnehmen. Daher werde „das Moment der Bewegung, das vorher der ganze Krieg war, zu einem partiellen“. Im Stellungskrieg formiere sich Gegenmacht:
„Was lässt sich vonseiten einer erneuernden Klasse diesem phantastischen Komplex von Schützengräben und Befestigungen der herrschenden Klasse entgegensetzen? Der Geist der Abspaltung, das heißt der fortschreitende Erwerb des Bewusstseins der eigenen geschichtlichen Persönlichkeit, ein Geist der Abspaltung, der bestrebt sein muss, sich von der protagonistischen Klasse auf die potentiellen verbündeten Klassen auszuweiten: all das verlangt eine komplexe ideologische Arbeit, deren erste Bedingung die genaue Kenntnis des Feldes ist, das leergemacht werden muss von seinem menschlichen Massenelement.“[xvii]
Die Versuche der Subalternen, zu eigenständigem Bewusstsein zu kommen, durchlaufen zahlreiche Stadien der Abgrenzung vom herrschenden Bewusstsein. Sie reichen von spontaner Wahrnehmung eigener Interessen, über Versuche der Reformierung bestehender Parteien bis zur Bildung eigener Parteien und deren Ausdehnung. Entscheidend sei in jeder Situation „die dauerhaft organisierte und von langer Hand vorbereitete Kraft, die man vorrücken lassen kann, wenn man eine Situation als günstig einschätzt (und günstig ist sie nur, sofern eine solche Kraft vorhanden und von kämpferischem Feuer erfüllt ist); deshalb ist die wesentliche Aufgabe, systematisch und geduldig darauf zu achten, diese Kraft zu formieren, zu entwickeln, sie immer homogener, kompakter, selbstbewusster zu machen.“[xviii]
Bewusstheit und Organisiertheit der Massen entstehen im Kampf um ihre Rechte. In ihm verschieben sich die Kräfteverhältnisse und befähigen sich die Massen, ihre Geschichte zu gestalten. Die Hegemonie einer Klasse setzt sich im Maße durch, in dem sie, über die eigenen korporativen Interessen hinausgehend, einen mehrheitsfähigen Block der Veränderung anführt. Erlangt sie die Macht, muss sie auch danach nicht nur herrschen, sondern zugleich führen. Sie muss Missstände von vornherein vermeiden, objektiv notwendige Veränderungen rechtzeitig selbst vornehmen, dazu auch Forderungen der Subalternen aufgreifen und sich Ideen der Gegenseite einverleiben. Je größer das Ausmaß an Konsens, desto stabiler die Herrschaft. Zieht man möglichst viele Kritiker und Oppositionelle auf die eigene Seite, gibt ihnen Gestaltungsspielräume innerhalb des Systems, kann ein Großteil der Subalternen eingebunden werden und die Bildung von Gegenmacht bleibt schwach. Ähnliches bewirken Spaltungen und das Gegeneinander Ausspielen der Volksklassen.
Die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus macht Reformen und die Erneuerung von Teilbereichen regelmäßig erforderlich. Gramsci unterschied „gelegenheitsbedingte“, konjunkturelle Krisen von „großen“ oder „organischen Krisen“, die die Grundlagen des Systems berühren. Welche Auswege gefunden werden, hängt von den politischen Kräfteverhältnissen ab. Kommt ein Bündnis von unten, eine „Volksinitiative“ nicht zustande oder bleibt sie schwach, dann behält die herrschende Klasse Zeit und Spielraum, die Krise von oben zu bearbeiten, unter Umständen mittels einer „passiven Revolution“, die das System auf reaktionäre Weise neuen Erfordernissen anpasst, ohne die Klassenmacht zu ändern. Gramsci nannte das auch Revolution/Restauration.[xix]
Gramsci gewann seine politikwissenschaftlichen Einsichten durch das Studium bestimmter Abschnitte der Geschichte. Er befasste sich mit der Geschichte norditalienischer Stadtstaaten des 15./16. Jahrhunderts und den Schriften Machiavellis. Er untersuchte die vorantreibende Rolle der Jakobinerpartei während der Französischen Revolution. Er studierte das unterschiedliche, sich ergänzende Agieren der Parteien des italienischen Risorgimento, der Partei der Moderati und der Aktionspartei, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gegenstand seines Interesses waren nicht nur verschiedene historische Phasen der Formierung bürgerlicher Parteien, sondern auch der Fordismus und der Faschismus als verschiedene Varianten einer passiven Revolution im modernen, „gelenkten“ Kapitalismus.
Ein relativ stabiles Kartell neoliberaler NATO-Parteien
Im bürgerlichen Parlamentarismus der Bundesrepublik Deutschland hat sich nach 1945 ein im Vergleich zu anderen großen kapitalistischen Ländern relativ stabiles Parteiensystem etabliert. Die CDU unter Adenauer restaurierte im Verein mit den westlichen Besatzungsmächten die Macht des Monopolkapitals und erreichte die Aufnahme der BRD in das transatlantische Bündnis. Die KPD wurde verboten. Die SPD bekannte sich 1959 in Godesberg zum Kapitalismus und zur NATO. Links von ihr entstand eine starke außerparlamentarische Bewegung. Sie erkämpfte das vorläufige Ende der CDU-Ära, die Anerkennung der Ostgrenzen und eine Bildungsreform. Nach der Krise 1974/75 setzte unter Kanzler Helmut Schmidt wieder eine Rechtsentwicklung ein, die später schubweise in den Neoliberalismus überging.
Die CDU/CSU gründete sich als bürgerliche „Volkspartei“. Mit christlichem und sozialem Anstrich verschaffte sie dem Monopolkapital eine Massenbasis bei Mittelständlern und „Arbeitnehmern“. Die kleinere bürgerliche FDP agierte dagegen oft „marktradikal“, ohne sozialpolitische Rücksichten. Ihr kam und kommt die Rolle zu, Mehrheiten für Regierungswechsel zu beschaffen und einen auf verbesserte Profitbedingungen gerichteten Kurs auch durch Koalitionsbeteiligungen zu sichern. Im Lauf der Zeit wandelte sich die FDP-Wählerbasis. Bis in die 1960er Jahre wählten protestantische Mittelständler, Landwirte und Bildungsbürger die FDP, später überwogen Angestellte, Akademiker, Jungunternehmer, Globalisierungsgewinner, sogenannte „Leistungsträger“. 1982 förderte die FDP den Kanzlerwechsel zu Helmut Kohl.
Prägend für die 1980er Jahre waren der Kampf für die 35-Stunden-Woche, der mit einem Kompromiss endete, die großen Friedensdemonstrationen gegen die Raketenstationierung und das Aufkommen der „neuen sozialen Bewegungen“ gegen AKWs, für Frauenemanzipation und Minderheitenrechte. Ende der 1980er Jahre erfolgte der Crash der DDR. Ihre Deindustrialisierung wurde für massive Wellen der Prekarisierung genutzt. Die Regierung Schröder/Fischer beteiligte sich am Krieg gegen Jugoslawien, womit auch die Grünen in der NATO ankamen. 2003 beschlossen SPD und Grüne die Agenda 2010 als zentrales Projekt des neoliberalen Umbaus des Sozialsystems. Die SPD verlor in der Folge den Status einer „Volkspartei“.
Die Grünen etablierten sich hingegen. Sie wurden zur Partei der rasch wachsenden gebildeten Mittelschichten. In den Großstädten gruben SPD und Grüne der CDU und CSU das Wasser ab. Die CDU unter Merkel wirkte dem mit dem Schwenk zum AKW-Ausstieg und mit dem Aufgreifen bestimmter Forderungen der neuen sozialen Bewegungen entgegen. Damit verlor die Merkel-CDU jedoch an Bindekraft nach rechts. In der Eurokrise 2008ff. und der Flüchtlingskrise 2015 formierte sich mit der AfD eine Partei rechts von der CDU. Das schmälerte den „Volkspartei“-Status der CDU.
Inhaltlich wurden CDU/CSU, FDP, Grüne und SPD immer ähnlicher. Sie bezeichnen sich gegenseitig als „regierungsfähig“ und miteinander koalitionsfähig. Das Parteiensystem der Bundesrepublik ist somit auch ohne große „Volksparteien“, die im Wechsel die Regierung anführen, relativ stabil und im Interesse des Monopolkapitals voll funktionsfähig. Die vier „Regierungsfähigen“ vermögen einen ausreichend großen Teil der Bevölkerung auch während anhaltender ökonomischer, sozialer und geopolitischer Krisen einzubinden, teilweise sogar für ihre Zwecke zu mobilisieren. Zudem existiert mit der AfD eine weitere neoliberale Aufrüstungspartei in Reserve, die Protestpotential ableiten und neutralisieren kann. Die Partei Die Linke ist stark geschwächt. Ein Teil tendiert zur Anpassung an die „Regierungsfähigen“.
So wenig wie zu den Zeiten Rosa Luxemburgs, als es eine starke Arbeiterbewegung gab, lässt sich das heutige Kartell neoliberaler NATO-Parteien allein durch Wahlen und Sitzverschiebungen aufbrechen. Ein besseres Leben für die Lohnabhängigen erfordert immer noch eine „gewaltige Machtentfaltung des Klassenkampfs“.
von Beate Landefeld; erschien zuerst in Marxistische Blätter 3-2022
[i] Antonio Gramsci, Die kommunistische Partei, 1920, aus: Christian Riechers (Hg.), Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis, Eine Auswahl, 1967, S. 80ff.
[ii] Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, S. 120
[iii] MEW 8, S. 139
[iv] MEW 8, S. 124
[v] Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1851, MEW 7, S. 20
[vi] MEW 7, S. 37f.
[vii] MEW 7, S. 60
[viii] MEW 8, S. 141f.
[ix] MEW 8, S. 199ff.
[x] Rosa Luxemburg, Unsere Stichwahltaktik. „Leipziger Volkszeitung“ 29.2., 1.3., 2.3. und 4.3.1912, zitiert aus Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 3, 1973, S. 119
[xi] Die liberale Partei der Konstitutionellen Demokraten (abgekürzt KD) bildete sich 1905. Die Partei der Oktobristen bildete sich 1905 aus Befürwortern des Oktobermanifests des Zaren. Die Trudowiki waren eine aus der Volkstümlerbewegung hervorgegangene Intellektuellen- und Bauernpartei.
[xii] W.I. Lenin, Über Doppelherrschaft (1917), LW 24, S. 20-23
[xiii] Wolfgang Fritz Haug (Hg.), Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Bände 1-10, 1991-2002. Im folgenden Text angegeben als GH, danach Nr. des Bandes: GH 7, S. 1558ff. (Heft 13, §17)
[xiv] GH 5, S. 1036 (Heft 8, §169)
[xv] GH 7, S. 1497-1516 (Heft 12, §1)
[xvi] GH 7, S. 1501f. (Heft 12, §1)
[xvii] GH 2, S. 374 (Heft 3, §49)
[xviii] GH 7, S. 1565 (Heft 13, §17)
[xix] GH 6, S.1329f. (Heft 10, §41)

