Kräfteverhältnisse und Formen der Ostexpansion

Von Beate Landefeld

Dem Kapitalismus wohnt die Tendenz zur Expansion inne. Ihre Formen wechseln unter dem Einfluss von Kräfteverhältnissen. Es gibt verschiedene Ebenen von Kräfteverhältnissen, die sich nicht gleichmäßig entwickeln müssen: ökonomische, politische, ideologisch-kulturelle, militärische. Letztlich zentral sind die ökonomischen Kräfteverhältnisse, da sie für die anderen Ebenen die Ressourcen bereitstellen. Innere (nationale) und äußere (internationale) Kräfteverhältnisse hängen zusammen.

Nach 1945 gab es in der Entwicklung der internationalen Kräfteverhältnisse mehrere Wendepunkte, die jeweils den Beginn einer neuen, durch bestimmte Merkmale geprägten Etappe geopolitischer und gesellschaftspolitischer Entwicklungen markierten.

Die USA gingen aus dem 2. Weltkrieg als Gläubiger der europäischen Staaten der Anti-Hitler-Koalition hervor. Sie etablierten sich als Führungsmacht des Kapitalismus. Nach Kriegsende erwirtschafteten sie die Hälfte des Welt-Bruttosozialprodukts, einen Anteil, den sie später nie wieder erreichten.[1] Im Osten Deutschlands und in den von der Sowjetarmee befreiten Ländern Osteuropas entstanden nach Revolutionen sozialistische Staaten. In Afrika, Asien, Lateinamerika führte der antikoloniale Befreiungskampf bis Mitte der 1970er Jahre zum Zusammenbruch des Kolonialsystems.

Systemkonkurrenz und 30 goldene Jahre (1945 bis 1974/75)

Baron Hastings Ismay, der erste NATO-Generalsekretär, definierte 1952 als Funktion der NATO, „to keep the Russians out, the Americans in and the Germans down“.[2] Während des Kalten Kriegs fungierte die Bundesrepublik, deren Eliten die Grenzen von 1937 zurückhaben wollten, als aggressiver Frontstaat gegen den Warschauer Pakt. Der Mauerbau 1961, die Kubakrise 1962 zeigten der imperialistischen Expansion Schranken. Danach gingen Kennedy und Chruschtschow zur Entspannung über. Als immer mehr kolonial befreite Staaten die DDR anerkannten, passte sich, unter dem Druck der Friedensbewegung und nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen SPD/FDP und CDU/CSU, der Bonner Bundestag den Realitäten an.

Die Entspannungspolitik hob die kapitalistische Expansionstendenz nicht auf, unterzog sie aber einem Formwandel: statt „Rückeroberung“, „Wandel durch Annäherung“ (Egon Bahr). Damit außenpolitische Annäherung nicht mit mehr Akzeptanz von Kommunisten im Inneren einherging, führte man 1972 die Berufsverbote ein. Ebenfalls 1972 gründete Willi Brandt mit US-Partnern den German Marshall Fund (GMF). Die transatlantische Erziehung von Führungskräften sollte damit geboostert werden.[3]

Die Phase von 1945 bis zur Krise 1974/75 war einerseits geprägt durch den Kalten Krieg, den der Westen unter Führung der USA mit dem Ziel der „Eindämmung“ und des Rollback gegen das sozialistische Lager führte. Im Inneren der kapitalistischen Länder hieß das Antikommunismus, Kommunistenhatz, Verdächtigung kritischen Denkens. Andererseits setzte die Systemkonkurrenz die im Kapitalismus herrschenden Klassen unter einen gewissen Anpassungszwang. Sie machten soziale Zugeständnisse, um härtere Klassenauseinandersetzungen zu vermeiden. Das war ein für den Kampf der Lohnabhängigen relativ günstiges Kräfteverhältnis.

Auch der antikoloniale Befreiungskampf zog Nutzen aus der Systemkonkurrenz. 1961 bildete sich die Bewegung der Blockfreien. Die Länder gehörten keinem der beiden Militärbündnisse an, traten für friedliche Koexistenz, Abrüstung, eine gerechte Weltwirtschaftsordnung ein. Die Blockfreien umfassten Länder unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, von China bis Zypern. Die Bipolarität bot ihnen Spielraum, Hilfe von beiden Polen zu erhalten. Manche probierten den „nichtkapitalistischen Entwicklungsweg“ mit Hilfe des sozialistischen Lagers. Andere wurden durch Sabotage und Blockade des Westens dem Realsozialismus in die Arme getrieben.

Bei aller Widersprüchlichkeit bestimmten 1945 bis 1975 die Kräfte des Fortschritts die Richtung der Entwicklung: Der reale Sozialismus erstarkte. Im Kapitalismus erreichten die Lohnabhängigen Zugeständnisse, so dass heute von „30 goldenen Jahren des Kapitalismus“ die Rede ist. Der antikoloniale Befreiungskampf inspirierte die aufgewecktesten Teile der Jugend auch im Kapitalismus. Fidel Castro, Che Guevara, Ho Chi Minh wurden Idole. Am Ende der 1960er Jahre kam es in fast allen kapitalistischen Ländern zu starken linken Protestbewegungen.

Neoliberalismus und Kollaps des Sozialismus (1974/75 bis 1990)

Die Weltwirtschaftskrise 1974/75 leitete die Wende nach rechts ein. Sie war nicht nur eine zyklische Krise, sondern eine „Große Krise“, in der sich Überakkumulation und politische Krisenerscheinungen des imperialistischen Weltsystems verbanden. Der Nachkriegsboom war zu Ende. Der Vietnamkrieg führte zur Überdehnung des US-Imperialismus. 1971 hob US-Präsident Nixon die Goldbindung des Dollars auf. Die BRD und Japan wurden Gläubigernationen der USA. Ölpreiserhöhungen infolge Verknappung durch die OPEC und Lohnkämpfe der Arbeiterklasse bewirkten eine Profitklemme, Investitionsrückgang und Stagflation in den kapitalistischen Hauptländern.

Zwecks Regulierung der Krise gründeten sich die späteren G7. Beginnend mit Thatcher und Reagan setzten die Bourgeoisien im Klassenkampf von oben nach und nach den neoliberalen Ausweg aus der Krise durch. Sie verbesserten ihre Profitbedingungen durch Deregulierung, Privatisierung, Prekarisierung und Umverteilung von unten nach oben. Damit schufen sie Voraussetzungen, dass die Kapitalakkumulation wieder in Gang kam. In den Jahrzehnten danach machte der neoliberale Umbau die Reichen immer reicher, die Lage der Lohnabhängigen immer prekärer.

Doch auch im Sozialismus nahmen in den 1970er Jahren Krisenphänomene zu. In der Arbeitsproduktivität vergrößerte sich die Lücke zum Kapitalismus. Der Übergang von der extensiv erweiterten zur intensiv erweiterten Produktion im Zuge der wissenschaftlich-technischen Revolution gelang nur in einzelnen Bereichen, nicht auf breiter Front. In den 1980er Jahren verfolgte zudem US-Präsident Reagan die Strategie des „Totrüstens“ der Sowjetunion. Äußerer Druck und inneres Versagen mündeten Ende der 1980er Jahre im Kollaps des europäischen Sozialismus.

China hatte mit der „Ping-Pong-Diplomatie“ der 1970er Jahre sein Verhältnis zu den USA verbessert.[4] Deng Hsiao Pings „Politik der Öffnung und Reform“ ermunterte ab 1978 US- und europäische Konzerne, in der Volksrepublik zu investieren. Gestützt auf eigene Potentiale und bei Wahrung seiner politischen und wirtschaftlichen Souveränität war China fähig, ausländische Direktinvestitionen für die Entwicklung des eigenen Landes zu nutzen. Mit der Zeit gelang der Aufstieg von der low end zur high end Produktion in den internationalen Wertschöpfungsketten.

Der „unipolare Moment“ (1991 bis zur Krise 2008ff.)

Die Weichenstellung zugunsten des neoliberalen Akkumulationsregimes im Kapitalismus und der Kollaps des Sozialismus in Europa veränderten die Kräfteverhältnisse gravierend zugunsten der herrschenden Klassen. Die Kräfte des Fortschritts erlitten eine Niederlage. Die Lage der Lohnabhängigen wurde prekärer, ihre Kampfbedingungen schlechter. Zugeständnisse der Herrschenden, die über Symbolismus hinausgehen, sind seither nur im härtesten Klassenkampf erreichbar. In der Dritten Welt waren viele kolonial befreite Länder den USA, der EU und den von ihnen dominierten Institutionen IWF und Weltbank zunächst wieder alternativlos ausgeliefert.

Als „unipolarer Moment“ gelten die knapp zwei Jahrzehnte zwischen der Auflösung der UdSSR bis zur Krise 2008ff. Der kapitalistische Westen hatte im Kalten Krieg gesiegt. Francis Fukuyama deutete das als Sieg der „liberalen Demokratie“, mit dem die Geschichte am Ziel und Ende sei. US-Stratege Brzezinski riet 1997 zur zügigen Ostexpansion von NATO und EU, um die Vormacht der USA auf dem eurasischen Kontinent und damit in der Welt zu sichern – ohne Mitsprache Russlands.[5] Fukuyama und Brzezinski waren Ideengeber der Neocons, einer Strömung, die sich in den 1990er Jahren in Politik, Thinktanks und Medien der USA etablierte und die für die US-Außenpolitik bestimmend wurde. Sie sind die „Falken“ der Gegenwart.

Die Neocons propagieren als Ideologen, Narrativbildner und Politiker das unipolare, US-geführte Weltimperium.[6] Sie stützen sich auf große Teile des Militär-Industrie-Komplexes, der Geheimdienste und der mit ihnen kooperierenden Internetkonzerne. Auf das Konto der Neocons gehen 30 Jahre „Global war on Terror“, die auf Neuordnung zielten und Chaos hinterließen. NATO-Armeen wurden zu global agierenden Interventionskräften umgebaut. Seit 1999 trieben die Neocons die Osterweiterung der NATO gegen Russlands Einwände voran. Sie ging mit der EU-Ostexpansion einher.

Die deutsche Finanzoligarchie gehörte zu den Profiteuren der Umwälzungen. Die Einverleibung der DDR, der neoliberale Umbau verhalfen ihr zur Dominanz in Europa. Deutsche Regierungen trugen aktiv zum Zerfall Jugoslawiens bei und nahmen am NATO-Krieg gegen Belgrad teil. Im Zuge der EU- und NATO-Ostexpansion erreichte der deutsche Imperialismus sein altes Ziel des europäischen Wirtschaftsgroßraums.[7] Olaf Scholz verklärt die Ostexpansion als „europäische Friedensordnung“. Real war sie die Ausnutzung der Schwäche Russlands nach dem Abzug seiner Truppen. Keineswegs verlief die Expansion nur „friedlich“. Sie ging mit Kriegen und Regime-Change-Versuchen einher, wie in Jugoslawien, Ukraine oder Belarus.

Während des unipolaren Moments überwog in der Politik des Westens gegenüber Russland und China eine Strategie der Integration in das US-geführte, „regelbasierte“ imperialistische Weltsystem. Russland durfte am Katzentisch der G7 (G7-8) sitzen. Ihm war die Rolle eines Rohstofflieferanten und Absatzmarkts für westliche Waren zugedacht. China war ein großer Markt, auf dem Kapitalisten präsent sein mussten. Sie setzten auf „Liberalisierung“. Den Sozialismus sahen sie als Auslaufmodell.

Strategiewechsel nach dem „unipolaren Moment“

Die VR China entwickelte sich nicht gemäß westlichen Erwartungen, sondern folgte eigenen Bedürfnissen. In der Krise 2008ff. wirkten Chinas Konjunkturprogramme als Stabilisator der Weltwirtschaft. Die G20 etablierten sich als Format der weltweiten Regulierung, in das auch die größten Schwellenländer einbezogen sind. Nach der Krise verkündete China das Ziel, sich von der Werkbank der Welt zur High-Tech-Nation zu entwickeln. 2014 lag sein BIP nach Kaufkraftparität vor dem der USA.

Zwischen 2002 und 2022 stieg Chinas Anteil am Welt-BIP von 8,1 Prozent auf 18,8 Prozent. Der Anteil der USA sank im gleichen Zeitraum von 19,8 Prozent auf 15,8 Prozent. Der Anteil der EU schrumpfte von 19,9 auf 14,8 Prozent.[8]

2001 entstand die Shanghai Kooperations-Organisation. 2009 gründeten sich die BRICS. Mit eigener Entwicklungsbank und Reservefonds bieten sie Alternativen zu den vom Westen beherrschten Gremien IWF und Weltbank und deren neoliberalen Schocktherapien. 2013 startete China die Belt & Road-Initiative. 2021 nahmen an diesem Projekt des Ausbaus der gemeinsamen Infrastruktur und einer gemeinsamen Konnektivität 140 Länder Asiens, Afrikas, Europas und Lateinamerikas teil.

Auch Russland entwickelte sich nach 2000 unter Putin anders als in den 1990er Jahren unter Jelzin. Putin bremste den Ausverkauf russischer Ressourcen an westliches Finanzkapital – für die westlichen Eliten eine Regelverletzung. Chinas Aufstieg und Gestaltungswillen sowie Putins Beharren auf der Souveränität der Russischen Föderation werden im Westen als „Aggressivität“ und Bedrohung wahrgenommen.

Mit dem „Pivot to Asia“ 2011 leitete Obama gegenüber Russland und China einen Strategiewechsel von der Integrationsstrategie zu einer Strategie der Konfrontation und Eindämmung ein. Trump attackierte die Firmen Huawei und ZTE. Die politische Klasse der BRD vollzog den US-Strategiewechsel 2013 in der Studie „Neue Macht – neue Verantwortung“ der Stiftung Wissenschaft und Politik und des German Marshall Fund nach. China und Russland wurden erneut Feindbilder. Der Strategiewechsel war nicht Folge der Krim-Sezession. Er ging dem Maidan in Kiew voraus.

Von der „europäischen Autonomie“ zur „Führungspartnerschaft“

EU und NATO sind heute die wichtigsten Formen der Unterordnung europäischer Staaten unter ein zentrales Kommando, wobei in der EU der deutsche Imperialismus und in der NATO der US-Imperialismus das Sagen hat. Daraus entstand eine tiefgehende Verflechtung widersprüchlicher Interessen. Sie lässt sich nicht auf ökonomische Aspekte reduzieren, sondern hat auch historische und geopolitische Wurzeln. US-Geostratege Brzezinski beschrieb sie 1997 so: „Für Deutschland bedeutet Erlösung + Sicherheit = Europa + Amerika“. Das kann wie folgt erläutert werden:

Erlösung = Europa“ besagt: Als EU kann Deutschland Großmacht spielen, ohne aggressiv zu erscheinen. „Sicherheit = Amerika“ heißt: Militärmacht wird Deutschland nur in und mit der NATO. Das mache Deutschland „zu Europas Musterknaben und zum stärkeren Anhänger Amerikas in Europa“ [im Vergleich zu Frankreich, BL].[9]

Für die deutsche Bourgeoisie ist die EU von zentraler Bedeutung, um weltweit mitzureden. Die EU ist ein starker Wirtschaftsraum, mit dem sich Macht ausüben lässt, aktuell, indem man die eigene „Sanktionsfähigkeit“ demonstriert. So will man zu den USA aufschließen, „Augenhöhe“ erreichen oder das, was Baerbock „Führungspartnerschaft“ nennt. Habeck schwafelt von Deutschlands „dienender Führungsrolle“.[10]

Zeitweise war, angestoßen durch Frankreichs Macron und das „orangene Biest“ im Oval Office, „europäische strategische Autonomie“ hoch im Kurs. 2020 belehrte Ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer den Franzosen: „Die Illusion einer europäischen strategischen Autonomie muss ein Ende haben. Die Europäer können die entscheidende Rolle der USA als Garant für Sicherheit nicht ersetzen.“[11] Als deutsch-französische Gemeinsamkeit blieb der Wille zur strafferen Zentralisierung der EU durch Abschaffung des Konsensprinzips. So werde sie „politikfähiger“. Gemeinsam will man die europäische Rüstungsindustrie ausbauen und die EU weiter militarisieren – aber nur im Konsens mit der NATO, nicht gegen sie.

Die EU-NATO-Verkettung wurde im Zuge der Ostexpansion verstärkt durch das „neue Europa“. So nannte Donald Rumsfeld, US-Kriegsminister während des Irakkriegs, Polen und die baltischen Staaten. Sie stellten, anders als Deutschland und Frankreich, Truppen im Irakkrieg. Die Russophobie der reaktionären Eliten dieser Länder garantiert, dass sie jede dauerhafte Kooperation zwischen Deutschland und Russland vereiteln. Sie fungieren als U-Boote der US-Politik in der EU. „Einheit der EU“ ist so nur auf russlandfeindlicher Grundlage möglich.[12]

Objektive Interessenwidersprüche

Die nationalen Interessen der Bundesrepublik Deutschland sind nicht identisch mit denen der USA. Die Bundesrepublik ist als mittelgroßes Land auf Austausch und Verflechtung mit der Weltwirtschaft angewiesen. Im nationalen Interesse ihrer Bevölkerung liegen friedliche Koexistenz und gleichberechtigte Kooperation mit allen Nationen. Die BRD ist rohstoffarm. Ihr besonderes Interesse an Kooperation mit Russland beruht auf geografischer Nähe, beiderseitigem Interesse am Austausch von Technologie gegen Rohstoffe und Energie und der gemeinsamen Geschichte.

Die deutsche Finanzoligarchie ist am russischen Markt und an preiswerter Energie aus Gründen ihrer Wettbewerbsfähigkeit interessiert. Dieses Interesse spornte immer wieder Projekte ökonomischer Kooperation zwischen der kapitalistischen BRD und der UdSSR oder RF an, selbst im Kalten Krieg. Es lag dem Erdgas-Röhren-Geschäft der 1970er Jahre zugrunde wie auch den Nordstream-Pipelines der Ära Schröder-Merkel. US-Investigativ-Journalist Seymour Hersh nimmt an, Präsident Biden ließ Nordstream sprengen, weil er Scholz misstraute.[13] Scholz hatte Nordstream nur „auf Eis gelegt“. Später half er Biden beim Vernebeln der Täterschaft.

Dem Misstrauen der US-Finanzoligarchie liegen Unterschiede in den objektiven, geopolitischen und ökonomischen Interessen zugrunde. Die USA bekämpften schon das Erdgas-Röhren-Geschäft der 1970er Jahre. „Die Aufrechterhaltung eines starken Keils zwischen Deutschland und Russland ist für die USA von überwältigendem Interesse,“ formulierte STRATFOR-Chef George Friedman 2015.[14] In der Ökonomie sind die USA binnenmarktorientiert. Sie leisten sich ein großes schuldenfinanziertes Defizit. Ihre extraordinäre Kreditwürdigkeit stützt sich auf ihre Rolle als Hegemonialmacht. Hinzu kommt aktuell das Interesse, Fracking-Gas in die EU zu liefern.

Die Sanktionspolitik der EU gegen Russland trugen die Großkonzerne der Bundesrepublik mit, nicht begeistert aber dem „Primat der Politik“ folgend. Infolge der Sanktionen nach der Krim-Sezession war das Handelsvolumen 2012 bis 2021 schon um ein Viertel gesunken. 2022 sanken die Exporte um weitere 40 Prozent, die Importe stiegen nur im Preis.[15] Deutsche Konzerne zogen Investitionen ab oder froren sie ein. Der Vorsitzende des BDI-Ostausschusses Oliver Hermes trat zurück. Der Manager Klaus Mangold gab den Titel des russischen Honorarkonsuls zurück. Wer als Russland-Freund gilt, steht unter Medienbeschuss oder wie Gerhard Schröder unter Korruptionsverdacht. Die Schuld am eingetretenen Schaden sehen alle bei Putin.

Im Fall Chinas betont der BDI den Interessenunterschied zur US-Position. Während die US-Bourgeoisie seit Trump über die „Entkoppelung“ von Chinas Wirtschaft diskutiert, will der BDI zwar mehr Diversität, lehnt eine „Entkoppelung“ von China aber ab. Er wendet sich gegen die Fragmentierung des Welthandels. Aktuell gehe es „um die Koexistenz von verschiedenen Systemen, die miteinander im Wettbewerb stehen, aber auch kooperieren müssen. Globale Herausforderungen wie Klima- und Umweltschutz oder Armutsbekämpfung erfordern Kooperation – auch zwischen unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen.“[16]

Der BDI erstrebt zugleich mehr Freihandelsabkommen mit „Wertepartnern“. Oberwertepartner Biden praktiziert zurzeit mit dem „inflation reduction act“ gnadenlose Konkurrenz. Bidens Anreize plus die hohen Energiepreise der EU lenken Investitionen aus der EU in die USA. Die IG BCE warnt vor der Deindustrialisierung Deutschlands. Für deutsche Konzerne sind die USA wichtigstes Zielland ihrer Direktinvestitionen außerhalb der EU. Als Handelspartner hat aber China die USA überflügelt.[17]

Gefährliche Kluft zwischen Anspruch und Realität

Siebenmal verwendete der Sprecher des Weißen Hauses John Kirby auf seiner Pressekonferenz am 20.3.2023, dem Tag des Treffens von Putin und Xi Yinping, die Floskel von der „U.S. leadership around the world“.[18] Es wirkte wie eine Beschwörungsformel. Zwar werden die Apparate internationaler Organisationen und Institutionen immer noch von den USA und der EU dominiert, oft auch finanziert.[19] Trotz relativem ökonomischen Abstieg beanspruchen die USA, für den Rest der Welt die Regeln zu bestimmen, die sie zum eigenen Nutzen setzen und willkürlich auslegen. Doch die Kluft zwischen dem Anspruch und seiner Realisierung wächst.

Gegenwärtig zeigt sich diese Kluft wie in einem Brennglas in den Fehleinschätzungen, auf denen das Handeln der G7- und NATO-Länder im Ukrainekrieg basiert:

Ökonomisch wollten USA und EU mit nie dagewesenen Sanktionen Russland destabilisieren. Russland verkraftet sie. Die Welt unterstützt sie mehrheitlich nicht. Sie schaden primär der EU, fördern die Inflation, schwächen Dollar und Euro als Reservewährungen. Auf Dauer überfordert die Finanzierung der Ukraine den Westen.

Politisch setzte man auf internationale Isolierung und Regime-Change in Moskau. Das erwies sich als Illusion. Putin sitzt fest im Sattel.[20] International war Russlands Isolierung nur im Westen erfolgreich, nicht in Asien, Afrika und Lateinamerika.

Militärisch bestätigte sich Obamas Hinweis, Russland verfüge in der Ukraine über „Eskalationsdominanz“. Die ukrainische Armee ist überdehnt. Sie verbraucht mehr Waffen als die NATO-Länder herstellen können. Diesen fehlt nach 30 Jahren Neoliberalismus und „War on Terror“ die industrielle Basis für einen Abnutzungskrieg.

Auch ideologisch sind die Kräfteverhältnisse nicht statisch: Zwar dominiert im Westen klar die NATO-Propaganda, aber in Asien, Afrika und Lateinamerika wächst die Kritik an westlichen Doppelstandards und wird offener artikuliert als zuvor.

Die Kluft zwischen Anspruch und Realität verleitet die Regierungen der NATO-Länder zu einer abenteuerlichen Politik. Vor allem die Neocons der USA, deren Parteigänger auch in den Medien der BRD dominieren, lassen sich von „magischem Denken“ leiten. Mal wollen sie den Krieg auf dem Schlachtfeld gewinnen, mal durch Regime-Change in Moskau. Misserfolge lösen kein Nachdenken aus, sondern die Erhöhung des Einsatzes. Realistische Stimmen, die vor der Atomkriegsgefahr warnen, sind unter den herrschenden Klassen und Eliten bisher marginalisiert.

In der Bevölkerung sind Friedens- und Entspannungswille aber existent und artikulieren sich in der langsam wiederauflebenden Friedensbewegung. Zugleich drängt der globale Süden auf eine Verhandlungslösung. Arabische Länder vermittelten bei bisherigen Abkommen. Brasiliens Lula drängt auf eine Verhandlungslösung. China legte Vorschläge zur Lösung der Ukrainekrise vor. „Die USA fürchten, eine kriegsmüde Welt könnte Chinas Friedensvorschlag aufgreifen,“ war bei Bloomberg zu lesen.[21]

Nach Kaufkraftparität haben die BRICS inzwischen einen Anteil am Welt-BIP von 31,5 Prozent, die G7 einen Anteil von 30,7 Prozent.[22] Die BRICS haben die G7 ökonomisch überholt. Sie sind dabei, den Westen auch in politischer Lösungskompetenz zu überholen. Dies und der Druck der Bevölkerungen, die die Lasten schultern sollen, könnte die herrschenden Klassen im Westen zur Koexistenz zwingen.

erschien zuerst in Marxistische Blätter 3-2023


[1] Jörg Nagler, USA – Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft, Kalter Krieg von 1945-1989, Informationen zur politischen Bildung der Bundeszentrale für politische Bildung bpb, 20.03.2014

[2] Zitiert nach: Josef Joffe, NATO: Soldiering On, in: TIME 19.3.2009

[3] Aus der Ampelkoalition absolvierten ein Leadership-Programms des GMF: Annalena Baerbock, Cem Özdemir, Nils Annen, Eva Högl. Baerbock ist zugleich Young Leader des WEF.

[4] Kontakte von Tischtennisspielern der USA und Chinas gingen dem Treffen von Zhou Enlai und Henry Kissinger 1971 sowie Richard Nixons Besuch in Peking 1972 voraus.

[5] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft, 2001, S. 53ff.

[6] Zu den Neocons gehören u.a.: Donald Rumsfeld, John Bolton, George W. Bush, Dick Cheney, Madeleine Albright, Hillary Clinton, Paul Wolfowitz, Norman Podhoretz, Richard Perle, Robert Kagan, Viktoria Nuland, Joe Biden, Antony Blinken, Jake Sullivan

[7] Vgl. Reinhard Opitz, Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945, 2. Aufl., 1994

[8] https://de.statista.com/infografik/27680/anteil-am-kaufkraftbereinigten-globalen-bruttoinlandsprodukt/

[9] Brzezinski, S. 89ff.

[10] „Habeck sieht Deutschland in einer dienenden Führungsrolle“, in: focus.de, 2.3.2022

[11] Kramp-Karrenbauers Grundsatzrede – Keine Sicherheit ohne die USA, tagessschau.de, 17.11.2020

[12] Vgl. Beate Landefeld, Das Biden-Putin-Treffen und die EU, Unsere Zeit 9.7.2021

[13] Interview der Berliner Zeitung mit Seymour Hersh, BZ 14.2.2023

[14] Zitiert nach: Phillipp Fess, „Die Aufrechterhaltung eines starken Keils …“, Telepolis, 22.10.2022

[15] Destatis, Fakten zum Außenhandel mit Russland 24.2.2022; Pressemitteilung Nr. 054, 10.2.2023

[16] BDI-Papier „Neues Momentum für die Globalisierung“ vom Januar 2023, S. 12

[17] 2021 war das Handelsvolumen mit den USA 194,2 Mrd Euro mit China 245,1 Mrd Euro (Destatis)

[18] Caitlin Johnstone, US Offiials Really REALLY Want You to Know The US Is The World’s „Leader“, caityjohnstone.medium.com, 23.3.2023

[19] Vgl. US- und EU-Einfluss in UNO, IWF, Weltbank, WTO, OECD, OSZE, IEA, ICC

[20] Laut Umfragen des regimekritischen Lewada Center stimmen knapp 80 Prozent Putins Politik zu.

[21] Iain Marlow, US Fears a War-Weary World May Embrace China’s Ukraine Peace Bid, bloomberg.com 23.3.2023

[22] Scott Ritter, BRICS surpasses G7 in PPP-adjusted Global GDP, consortiumnews.com, 22.3.2023

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