Jörg Goldberg, Ein neuer Kapitalismus

Grundlagen historischer Kapitalismusanalyse, Köln 2021, 199 Seiten.

Goldberg unterscheidet zwischen zyklischen Krisen und „Großen Krisen“. Zyklische Krisen haben eine Bereinigungsfunktion. Daneben gab es in der 200-jährigen Geschichte des westlichen Kapitalismus eine Reihe tiefgreifender Umbruchperioden, die „Großen Krisen“. Im Unterschied zu zyklischen Krisen, mit denen sie einhergehen können, wirken „Große Krisen“ als Krisen des Systems. „Bei entsprechenden sozialen und politischen Kräfteverhältnissen können diese die Überwindung der kapitalistischen Eigentumsordnung ermöglichen. Sind die politischen Bedingungen aber nicht gegeben, dann setzen sich neue kapitalistische Konstellationen durch“ (8).

Zyklische Krisen resultieren aus innerökonomischen Widersprüchen (= endogenen Faktoren). Dagegen entstehen „Große Krisen“ und aus ihnen hervorgehende längere Entwicklungsphasen aus dem „Zusammenspiel“ von endogenen und exogenen Faktoren, von ökonomischer Basis und dem politisch-institutionellen Umfeld (64).

In den ersten Kapiteln behandelt Goldberg theoretische Grundlagen des Formwandels im Kapitalismus. Danach analysiert er Ursachen, Verlauf und Wirkungen der bisherigen „Großen Krisen“ des Kapitalismus. Die beiden letzten Kapitel beschäftigen sich mit der Krise ab 2008, die sich mit der „Coronakrise“ 2020ff. fortsetzte.

Im ersten Teil geht es um allgemeine Tendenzen der kapitalistischen Akkumulation, wie die Konzentration und Zentralisation des Kapitals und den tendenziellen Fall der Profitrate. Goldberg unterscheidet zwischen arbeitssparenden und kapitalsparenden Typen technischen Fortschritts, kritisiert die von Kondratieff begründete Theorie der Langen Wellen sowie Theorien, die einen Zusammenbruch des Kapitalismus prognostizieren. Im Ergebnis des Kapitalismus entstand der Weltmarkt, auf dem nationale Bourgeoisien und Unternehmen, die sich ungleichmäßig entwickeln, um Vorteile und Vorherrschaft ringen. Die Weltmarktregulierung erfolgt nach politischen und ökonomischen Kräfteverhältnissen zwischen den Nationen. Spielräume für nationale Politiken werden aufgrund internationaler Verflechtungen enger. Das bedeute aber nicht, dass die Nationalstaaten nur noch Spielbälle transnationaler Unternehmen seien (52).

Die grenzenlose Kapitalakkumulation steht im Widerspruch zu den endlichen Naturressourcen. Marx beschrieb dies mit der Aussage, die kapitalistische Produktion entwickele die Technik und Kombination des Produktionsprozesses, „indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums, nämlich die Erde und den Arbeiter untergräbt“ (38). Marx hielt aber Reformen im Kapitalismus für möglich und für eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Dies gelte, so Goldberg, nicht nur für soziale Reformen, sondern analog für Reformen auf ökologischem Gebiet.

Im zweiten Teil des Buchs untersucht Goldberg die vier „Großen Krisen“ in der bisherigen Geschichte des westlichen Kapitalismus. Das sind: (1) die Transformationskrise und die 1848er Revolution, (2) die Gründerkrise 1873 und die „Große Depression“, (3) die „Große Weltwirtschaftskrise“ 1929/32 und die Depression der besonderen Art, (4) die „Kleine Weltwirtschaftskrise“ 1973/75 und die neoliberale Wende.

1845-1847 verbanden sich Agrarkrise, industrielle Überproduktionskrise und Bankenkrise. Hunger und soziale Not bewirkten revolutionäre Unruhen. Träger waren die Volksmassen, während die Bourgeoisie sich im Verlauf der 1848er Revolutionen unter die Fittiche des Adels begab. Im Ergebnis kam es fast überall zur Stärkung der politischen Reaktion. Sie sorgte nach 1848 für politische Stabilität aber auch staatliche Modernisierungen und ‚Gewerbefreiheit‘, was den Weg für einen bis dahin beispiellosen Aufschwung der Industrie frei machte. „Der Ausgang der Revolutionen verwies das Proletariat für lange Zeit auf eine Rolle als politisch machtloses Arbeitskräftereservoir, ‚klärte‘ also die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital“ (93).

Die Gründerkrise 1873 und die folgende „Große Depression“ waren durch Preisverfall, verlangsamtes Wachstum aber zugleich das Erstarken von Arbeiterbewegungen und die Verbesserung der Lage der Arbeiter gekennzeichnet. Die Krise drückte auf Unternehmergewinne und forcierte die Bildung von Großkonzernen und Kartellen. Damit einher gingen Rationalisierung, Massenproduktion, Ablösung von Eigentümer-Unternehmern durch Manager und die Verwissenschaftlichung von Produktionsprozessen. Es kam zu Machtverschiebungen zwischen den Hauptländern des Kapitals. Deutschland und die USA überholten England in der Industrieentwicklung, während London sich als Weltfinanzzentrum behauptete. Weltmarktkonkurrenz und Rivalität der Nationalstaaten mündeten schließlich im Ersten Weltkrieg (101ff.).

Die „Große Weltwirtschaftskrise“ 1929/32 begann als Konjunkturkrise, bewirkte aber weder in den USA noch in Europa die Bereinigung von Überkapazitäten, da die Monopole sich den Entwertungsprozessen entziehen konnten. Versuche der internationalen Regulierung scheiterten. Es kam zu einem Zollwettlauf und zum Zerfall der kapitalistischen Welt in Währungsblöcke. Die Austeritätspolitik in wichtigen Staaten verschärfte die Krise. Die Wende wurde in den USA mit Roosevelts New Deal eingeleitet. In Deutschland führten Hitlers Aufrüstung, Wehrpflicht und Arbeitsdienst sowie die Entrechtung der Lohnabhängigen zum Rückgang der Arbeitslosigkeit (110ff.).

Die „Große Weltwirtschaftskrise“ 1929/32 förderte selbst im Bürgertum die Einsicht, dass der freie Markt nicht alles regeln kann und Staatsinterventionen nötig sind. Nach 1945 übernahmen die USA – anders als nach dem Ersten Weltkrieg – die Rolle der Hegemonialmacht im kapitalistischen Westen, der sich mit den Bretton-Woods-Institutionen ein Regime internationaler Regulierung schuf. Kriegszerstörungen und Wiederaufbau begründeten ein langanhaltendes, hohes Wachstum. Die Systemkonkurrenz mit dem sozialistischen Lager förderte die Neigung der Kapitaleigner, die Arbeiterklasse am Wohlstand zu beteiligen, um sie in das System einzubinden. Dieses „Goldene Zeitalter“ währte bis zur Krise 1973/75 (114ff.).

Die „Kleine Weltwirtschaftskrise“ 1973/75 fiel mit einem Konjunktureinbruch zusammen, der in eine längere Periode von schwachem Wachstum und Finanzkrisen mündete. Mit der zyklischen Krise verflochten sich vielfältige Krisenerscheinungen, teils ökonomischer Art, teils begründet in internationalen und nationalen Kräfteverhältnissen. Die Niederlage der USA in Vietnam stand für das Ende des Kolonialsystems. 1971 gaben die USA die Goldbindung des Dollars auf und öffneten das Tor zur Währungsspekulation. Länder der Dritten Welt setzten höhere Öl- und Rohstoffpreise durch. In den Ländern des Kapitals erstarkten außerparlamentarische Bewegungen und Kämpfe der Lohnabhängigen.

Die Eliten der reichen Länder suchten den Ausweg in neoliberalen Gegenreformen. Dabei ging es nicht um eine Rückkehr zum Wirtschaftsliberalismus der Zeiten vor Keynes. „Tatsächlich überließ keine der ‚neoliberalen‘ Regierungen ihre Ökonomie den Marktkräften […] In keinem entwickelten kapitalistischen Land wurde die Rolle des Staates wirklich beschnitten, nirgendwo ging der Anteil öffentlicher Ausgaben am BIP nennenswert zurück“ (123). In der Hauptsache sei es „um die Schwächung der Gewerkschaften, die Veränderung im Verhältnis Arbeit-Kapital zugunsten des Kapitals und um die Öffnung sozialer Sicherungssysteme für privates Kapital“ gegangen. In der Folge nahm die Einkommensungleichheit wieder deutlich zu (125).

Die steigende Profitmasse strömte auf liberalisierte Finanzmärkte. Die Disproportion zwischen dem Wachstum des globalen Finanzvermögens und dem der ‚Realwirtschaft‘, die zum Ausbruch der Krise 2008 führte, entstand. In den reichen Ländern verlangsamte sich 1973-2007 das Wachstum. In Lateinamerika und Afrika kam es zu Schuldenkrisen, in den Ländern des ehemaligen RGW zu Produktionseinbrüchen. Neoliberale ‚Strukturanpassungsprogramme‘ des IWF warfen diese Länder zurück. Der asiatische Raum blieb verschont. Er konnte „von der globalen Handelsliberalisierung profitieren und so die Grundlage für einen wirtschaftlichen Aufschwung legen, der zu einschneidenden Veränderungen der Hegemonialstrukturen führte“ (123).

Im dritten Teil analysiert Goldberg die „Krisenperiode 2008/2020“. Ob es sich um eine „Große Krise“ handelt, könne erst im Rückblick bewertet werden. Die vom US-Immobilienmarkt ausgehende Banken- und Finanzmarktkrise verband sich mit einer Konjunkturabschwächung zur ‚Doppelkrise‘ und führte 2009 in den reichen Ländern zum schärfsten Einbruch seit 1945. Die Eindämmung durch die Staaten erfolgte mit beispiellosen Konjunkturprogrammen, Bankenrettungen, Staatsbeteiligungen und einer Geldschwemme der Zentralbanken. Der kurzfristigen Erholung 2010 folgte eine längere Periode, in der die Antriebskräfte schwach blieben. Aufgrund sinkender Rohstoffpreise erfasste die Krise 2014 Lateinamerika, Russland und Afrika. 2018/2019 mehrten sich Anzeichen für eine neue Rezession.

2020 führte die Corona-Pandemie weltweit zum scharfen Rückgang der Produktion und zu Einbrüchen vor allem im Dienstleistungssektor. Von den größeren Ländern verzeichnete 2020 nur China ein Wachstum. Goldberg sieht die Coronakrise als Folgekrise, die jene Widersprüche verschärft habe, die schon der Krise 2008 zugrunde lagen. „Dazu gehören die Hypertrophie und Labilität der Finanzmärkte bei stagnierenden Realinvestitionen, die wachsende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen und eine vor dem Hintergrund sich verschärfender hegemonialer Auseinandersetzungen stockende Globalisierung“ (134). Hinzukommen als Herausforderungen die ökologische Transformation und die „Digitalisierung“.

Die Frage, ob die miteinander verflochtenen Widersprüche und Konflikte als Entwicklungsschranken der neoliberalen Phase wirken und Ausgangspunkte einer Neuformierung des Kapitalismus werden könnten, beantwortet Goldberg eher skeptisch.

Zwar seien 2008 manche Glaubenssätze des Neoliberalismus ins Wanken geraten und sei absehbar, dass die anstehenden Transformationen massive Staatseingriffe erfordern. Andererseits nehme die Vermögenskonzentration weiter zu und mit ihr das Übergewicht des Finanzsektors, dessen nach 2008 strengere Regulierung durch Schattenbanken unterlaufen werden. Bei CO2-sparenden Produktionsverfahren und der Digitalisierung überwiege mittelfristig ein tendenziell kapital- und arbeitssparender Wachstumstyp, was die Profitquote weiter steigern werde (171). Die dem Neoliberalismus zugrundeliegenden Disproportionen blieben damit intakt.

Eine Überwindung der neoliberalen Phase erfordere Umverteilung von oben nach unten. Dies sei nur mit neuen, zugunsten der Arbeiterklasse veränderten politischen Kräfteverhältnissen zu erreichen. Da diese derzeit nicht in Sicht seien, sei angesichts der geopolitischen Rivalitäten eher mit einem neuen Rüstungskeynesianismus zu rechnen. Zunehmende geopolitische Spannungen und Tendenzen zu Blockbildungen würden die Form der Globalisierung in Richtung von mehr Regionalisierung verändern. Im Schlusskapitel des 2021 erschienenen Buchs warnt Goldberg eindringlich vor den Kriegsgefahren, die mit dem Bestreben der USA verbunden seien, mittels einer Politik der Eindämmung Russlands und Chinas den Übergang von einer US-zentrierten unipolaren Weltordnung zu einer multipolaren Welt aufzuhalten.

Goldbergs Buch zeigt die entscheidende Rolle der politischen Kräfteverhältnisse für den Formwandel im Kapitalismus und über ihn hinaus. Ohne bewusstes Handeln der Massen kommen progressive Veränderungen nicht zustande, werden die Profiteure des Systems in Krisen Wege systemimmanenter Erneuerung finden, um neue stabile Phasen einzuleiten. Es kommt zu relativen Lösungen, die die inneren Widersprüche nicht aufheben, sondern auf höherer Stufe reproduzieren. An manchen Stellen leitet Goldberg aus der Innovationsfähigkeit des Kapitalismus eine Art ‚ewige Jugend‘ des Systems ab. Man kann sein Buch mit Gewinn lesen, ohne ihm darin zu folgen.

Beate Landefeld, erschien zuerst in Marxistische Blätter 4-2022