US-Hegemonie oder multipolare Weltordnung? Essen, 2022, 599 Seiten.
Das Buch hat zwölf Kapitel, die in der Regel 40-50 Seiten lang sind. Sie handeln von der Entwicklung des Kapitalismus in chronologischer Abfolge und fokussiert auf bestimmte Themen. Im Mittelpunkt steht dabei der „anglo-amerikanische Machtkomplex“ (Wagener): Entstehung und Aufstieg der USA, Ablösung des britischen Empire durch die Hegemonie der USA im imperialistischen Weltsystem, schließlich der Ende der 1970er Jahre beginnende, allmähliche Niedergang des US-geführten „Westens“ und die Ablösung der US-Hegemonie durch eine multipolare Weltordnung.
Kapitel 1 behandelt die Jahrhunderte europäischer Expansion, die Kolonialreiche und den Aufstieg des britischen Empire. Die Ursprüngliche Akkumulation, die industrielle Revolution und die Entstehung des Kapitalismus werden erläutert. Aus der europäischen Expansion geht der „anglo-amerikanische Machtkomplex“ als Sieger hervor.
Kapitel 2 behandelt die Zeit des Monopolkapitalismus und der beiden Weltkriege. Reflektiert werden die Anfang des 20. Jahrhunderts entstehenden Imperialismustheorien, die Rolle des Öls für Automobilisierung und motorisierte Kriegführung. Die vom britischen Geographen Mackinder 1904 formulierte Heartland-Theorie besagt, eine starke Macht in Eurasien könne das Empire herausfordern – ein Bedrohungsszenario, das der US-Geostratege Brzezinski aufgreift und nach ihm die heutigen Neocons. England fällt industriell hinter Deutschland und die USA zurück. Am Ende des 2. Weltkriegs übernehmen die USA im imperialistischen Weltsystem die Führung.
Im nächsten Kapitel analysiert Wagener verschiedene Ebenen der Integration der Arbeiterbewegung und Methoden der Steuerung des Massenbewusstseins im Imperialismus. Die Entwicklung des Sozialismus in Europa und wichtige, vorwiegend ökonomische Gründe für sein Scheitern werden diskutiert. Die Spaltung im kommunistischen Lager verschafft der VR China den Freiraum für eine eigenständige, auf Investitionen des westlichen Finanzkapitals basierende Entwicklung.
Es folgt ein Kapitel zum Ausbau der US-Kriegsmaschine im Kalten Krieg, im Korea- und Vietnamkrieg und zu den Anpassungen, die sie in der Phase des „Kriegs gegen Terror“ und der Ostexpansion der NATO vollzieht. Damit einher geht der Ausbau des US-Sicherheitsstaats und der Überwachung unter Beihilfe der großen Internetkonzerne. Mediale Gängelung und Gleichschaltung, Bespitzelung und Repression sind für Wagener Zeichen einer „Faschisierung der Gesellschaft unter dem Label von Freedom & Democracy“. Gleichwohl sorgen 1945 bis zur Krise 1974 die Systemkonkurrenz, die Nachkriegskonjunktur und die Notwendigkeit der Integration der Lohnabhängigen in den Zentren für „30 Goldene Jahre“ des Kapitalismus.
Die Kapitel 5 bis 7 widmen sich der „neoliberalen Gegenreformation“. Wagener charakterisiert sie als „Entfesselung eines Klassenkampfes von oben, der nach Jahrzehnten taktischer Rücksichtnahme endlich sein ganzes reaktionär-destruktives Potential ausspielen kann“ (199). Er beschreibt Folgen des Neoliberalismus in den reichen Ländern auf ökonomischem, sozialem, politischem, kulturellem und psychologischem Gebiet: den Verfall der Infrastruktur, soziale Polarisierung, die Untergrabung der bürgerlichen Demokratie, das Aufblühen rechtspopulistischer Scheinalternativen. Außenpolitisch degenerieren die USA mit dem „Global War on Terror“, mit Drohnenmorden, Sanktionskriegen, dem Raub von Goldreserven zum „Schurkenstaat“.
In den kapitalistischen Hauptländern schwächt der neoliberale Umbau die industrielle Basis. Die Umverteilung von unten nach oben untergräbt selbst die Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals. Trumps Ankündigungen, Investitionen zurückzuholen und die militärische Überdehnung zurückzudrehen, werden vom „Militär-Geheimdienste-Industrie-Komplex“ (Wagener) im „parallelen“, „permanenten“ oder „tiefen Staat“ sabotiert und verlaufen im Sande. Den 2011 von Obamas Außenministerin Hillary Clinton verkündeten Pivot to Asia (Schwenk nach Asien) setzt Trump in Form eines Handels- und Technologiekriegs gegen China um. Er lässt das Iran-Atomabkommen platzen. Die Sanktionen gegen Iran treiben das Land in die Arme Russlands und Chinas.
China geht aus der Krise 2007ff. als Stabilisator der Weltwirtschaft hervor. Die politische Macht der KPCh festigt sich unter Xi Jinping. In Russland bremst Putin den unter Jelzin begonnenen ökonomischen Ausverkauf an westliches Finanzkapital. Auf beide Entwicklungen reagieren die USA mit einer Strategieänderung von der Integration zur Konfrontation. Die Fokussierung auf den „Global War on Terror“ wird abgelöst vom 2. Kalten Krieg zur Eindämmung Russlands und Chinas.
Kapitel 8 untersucht Widersprüche und zentrifugale Tendenzen, die den „Westen“ hierbei hemmen. Als Gegenpol formiert sich die Eurasische Kooperation. Wagener beleuchtet historische Hintergründe, heutige Ressourcen und die vielfältigen regionalen und interkontinentalen Organisationsformen derselben. SCO, BRICS und Routen der Belt & Road Initiative werden dargestellt und ausgemalt.
Kapitel 9 analysiert eingehend die militärischen Kräfteverhältnisse. Nach 1945 gelingt der UdSSR die Herstellung des atomaren Patts mit den USA. Danach arbeiten die USA immer wieder an Raketensystemen, die die Zweitschlagfähigkeit der UdSSR eliminieren sollen. Russland ist jedoch heute zur Herstellung von Systemen fähig, die von der US-Abwehr nicht erkannt werden können. Russlands Zweitschlagfähigkeit bleibt erhalten und damit die Abschreckung eines Erstschlags, den die USA mehr als einmal in Betracht zogen. Russlands wie auch Chinas Rüstungsindustrien und Streitkräfte sind primär auf Landesverteidigung ausgerichtet. Beide Länder unterhalten weder eine Interventionsstreitmacht noch aufwendige Stützpunktesysteme.
Dagegen verfügen die USA über nahezu 1000 Militärstützpunkte weltweit. Ihre Rüstungsausgaben übersteigen die Ausgaben Russlands um mehr als das Zehnfache, die Chinas um das Dreifache. Kosten sind aber nicht gleichbedeutend mit Effizienz. Im mächtigen Militär-Industrie-Komplex der USA regiert der Profit. Contractor-Unwesen, Lobbyismus und Korruption wuchern. Zur Dividendensteigerung wird privatisiert, ausgelagert, deindustrialisiert. US- und NATO-Interventionskriege gegen viel schwächere Gegner fördern den Ausbau von Fähigkeiten zu Bombardements und Luftschlägen, während Truppen und Territorialverteidigung vernachlässigt werden.
Das mit über 100 Seiten längste Kapitel 10 behandelt die Doppel-Krise 2020. Überlagert durch die Coronakrise, wird sie von Wagener als der „dritte offene Ausbruch“ der „Großen Krise des Neoliberalismus“ bezeichnet und in eine Reihe mit dem Platzen der Dotcom-Blase 2000 und der Krise 2007ff. gestellt. Zudem steht sie als „Große Krise des neoliberalen Verwertungsmodus“ im Zusammenhang mit dem „Ende des amerikanischen Jahrhunderts“. Im Umgang mit dem Virusausbruch erweise sich der Neoliberalismus endgültig als „katastrophale Fehlentwicklung“.
Die Coronakrise und der Great Power Conflict fördern Tendenzen der De-Dollarisierung, des De-Coupling und der De-Globalisierung. Prognostiziert wird eine regionalere Ausrichtung künftiger Produktion um drei regionale Cluster: Nordamerika, EU und Eurasien/Südostasien. Die Eurasische Kooperation werde der dynamischste Wirtschaftsraum. Die „Great Power Competition“ der Neocons habe, statt, wie geplant, die eurasischen Hauptmächte an der Entfaltung zu hindern, deren Kooperation geradezu erzwungen und „den alten anglo-amerikanischen Alptraum realisiert“ (444).
Kapitel 11 behandelt den Ukrainekrieg. Wagener charakterisiert ihn als Proxy-Krieg des US-geführten „kollektiven Westens“ gegen Russland, auf den die Neocons seit dem Maidan-Coup 2014 systematisch hinarbeiteten. Die dem russischen Einmarsch folgende „Mutter aller Sanktionen“ seitens USA und EU ziele auf Schwächung und Destabilisierung der Russischen Föderation, um sie für eine Regime-Change-Operation reif zu machen oder (wie im Fall Jugoslawien) in möglichst handhabbare Stücke aufzuteilen, auszuplündern und von China abzuspalten. Der „Großkampf um die Aufrechterhaltung des unipolaren Moments“ werde aber nicht mit dessen Renaissance, sondern mit seinem Untergang enden. Der Ukrainekrieg wirke als Katalysator.
Krieg und Sanktionen verschärfen die „Große Krise des Neoliberalismus“. Besonders in EU-Europa droht ein dauerhaft sinkendes Lebensniveau. Im letzten 12. Kapitel diskutiert Wagener Perspektiven des „langen Kampfes um eine postkapitalistische, gerechtere Gesellschaft“. Formen und Erfolgsaussichten postkapitalistischer Entwicklungsprojekte seien „immer auch eine Funktion des gesellschaftlichen wie geostrategischen Kräfteverhältnisses und der entsprechenden Bewusstseinsprozesse.“ Der europäische Sozialismusversuch 1917-1990 sei „eine belagerte Festung in einem materiell und technisch deutlich überlegenen feindlichen Umland“ gewesen.
China habe es, anders als die UdSSR, geschafft, „industriell auf Augenhöhe mit dem nun allerdings zerfallenden, neoliberal deindustrialisierten und überschuldeten Imperium zu gelangen (546)“. Es habe die „kritische Masse“ erreicht, die es dem Imperium schwer machen werde, eine Containment-Strategie umzusetzen, ohne sich dabei selbst am meisten zu schaden. Auch könne die ganz reale Dystopie des „westlichen“ Kapitalismus immer weniger konterrevolutionäre Strahlkraft auf die Völker Eurasiens entfalten. Sofern verhindert werden könne, dass die USA die Nuclear-Option ziehen, stünden die Chancen für eine Renaissance des Sozialismus gar nicht so schlecht.
Die Stärke von Wageners Buch liegt in der historisch-konkreten Darstellung ökonomischer, politischer, ideologisch-kultureller und militärischer Kräfteverhältnisse. Wagener macht deutlich, von wo heute die Hauptgefahr für den Bestand und zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit ausgeht: vom Versuch, die objektive Tendenz zur Multipolarität zu unterdrücken, um die globale Vorherrschaft der USA so lange wie möglich zu konservieren. Dagegen liegt es im Interesse der Lohnabhängigen und der Völker, die Multipolarität zu nutzen, um eine Demokratisierung internationaler Beziehungen, friedliche Koexistenz und gleichberechtigte Kooperation zu erkämpfen.
Das Buch ist bis zum Ende spannend, trotz mancher Wiederholungen und Überschneidungen. Interpretationen, Argumente und Quellenverweise sind eine Fundgrube. Die Endkorrektur des Buchs ist, falls es sie gab, nicht sehr sorgfältig.
Beate Landefeld, erschien zuerst in Marxistische Blätter 3-2023

