Marx-Engels-Stiftung/Gerrit Brüning/Kurt Baumann (Hg.), Novemberrevolution 1918/19, Ereignis – Deutung – Bedeutung, Essen, 2018, 295 S., EUR 19,80
Der Band enthält Beiträge von neun Autoren aus drei Generationen und aus ver-schiedenen politischen Zusammenhängen. Sie untersuchen die Novemberrevolution unter unterschiedlichen Blickwinkeln und mit teils differierenden Ergebnissen.
Gerhard Engel beleuchtet den Platz der Novemberrevolution in der deutschen Ge-schichte und im Geschichtsbild der Deutschen. Bis zu ihrem 90. Jahrestag sei die Revolution in der Bundesrepublik Deutschland eher als Randerscheinung der deutschen Geschichte, als „überflüssige“, „verlorene“ oder „vergessene“ Revolution wahrgenommen worden. Erst im letzten Jahrzehnt setzte ihre Entdeckung als Teil einer deutschen Demokratietradition ein. Als Beispiele nennt Engel die Bücher von Wolfgang Niess und Joachim Käppner über die Novemberrevolution. Sie beurteilen die Rolle der rechten SPD-Führung kritisch, da diese 1918/19 konsequent demokratische Maßnahmen verhinderte, statt Militarismus und Reaktion, gestützt auf die Arbeiterräte, nachhaltig zu schwächen. Wie Niess und Käppner setzt Engel voraus, dass angesichts der Kräfteverhältnisse in Arbeiterbewegung und Gesellschaft von „einer realen sozialistischen Möglichkeit … für 1918 nicht gesprochen werden“ könne (36).
Im zweiten Beitrag würdigt Hans Hautmann die österreichische Revolution. Auch deren erste Phase brachte eine sozialdemokratisch geführte Regierung hervor. Ihr Re-formismus zielte, anders als in Deutschland, nicht auf die Stabilisierung des Kapita-lismus, sondern verhieß einen „friedlichen, mit wenig Opfern verbundenen Weg“ zum Sozialismus. Er konkurrierte mit dem revolutionären Weg der Kommunisten, die in-nerhalb der Arbeiterräte in der Minderheit blieben. Die weitreichendsten Reformen konnte Österreichs zentristisch-sozialdemokratische Regierung in der zweiten Phase der Revolution ab Frühjahr 1919 durchsetzen, als in unmittelbarer Nachbarschaft Räterepubliken in Ungarn und München errichtet wurden. Nach der Niederwerfung Räteungarns im August gingen die Reformen auch in Österreich rasch zurück, bevor die ökonomische Macht des Kapitals angetastet war. Gestützt auf die Ökonomie konnte die politische Macht der Bourgeoisie wiedererstehen. Insgesamt lässt sich laut Hautmann die österreichische Revolution „als bürgerlich-demokratische Revolution“ definieren, „die in bedeutendem Maße mit proletarischen Mitteln und Methoden durchgeführt wurde und deshalb eine mit erheblichen sozialen und politischen Errun-genschaften der Massen ausgestattete parlamentarische Republik schuf“ (48).
Die Gründung der KPD und ihre Wirkung ist Thema des Beitrags von Heinz Karl. Er schildert die Bildung der Spartakusgruppe aus der radikalen Opposition gegen den 4. August 1914. Den Anschluss an die Ostern 1917 gegründete USPD versteht er als Versuch, die „Verbindung zu organisierten Massen mit sozialistischer Orientierung“ nicht zu verlieren (67). Immerhin definierte sich der Spartakusbund im Herbst 1918 mit eigenem Programm und in Anlehnung an das Manifest als revolutionärer, „weitertreibender Teil“ der Arbeiterbewegung. Indem sie im Jahr 1919 sektiererische und syndikalistische Einstellungen überwand, erleichterte die KPD den Zusammenschluss mit der linken USPD-Mehrheit. Auch danach war der Weg zu einer konsolidierten Massenpartei noch mit vielen Fehlern und schmerzhaften Niederlagen gepflastert. Teils mit Hilfe der Kommunistischen Internationale verstärkte die KPD ihre Hinwen-dung zu den Massen, machte Erfahrungen mit der Einheitsfront von unten und von oben, rang um das Bündnis mit Bauern, Intelligenz und Mittelschichten. Im Kampf gegen den Faschismus entwickelte sie ab 1931 die Volksfrontpolitik.
Gerrit Brünings Beitrag beschäftigt sich mit Novemberrevolution und Räterepublik in Bremen. Dort war die SPD schon vor dem Weltkrieg mehrheitlich links. Unter den Werftarbeitern besaßen die Bremer Linksradikalen relevanten Einfluss. Diese schlossen sich 1917 nicht der USPD an, sondern nannten sich von da an Internationale Kommunisten Deutschlands. Sie wollten eine selbstständige revolutionäre Organisation aufbauen, die zugleich Partei und Gewerkschaft sein sollte. Um die Jahreswende 1918/19 waren sie neben dem Spartakusbund Mitbegründer der KPD. Kommunisten und USPD trieben in Bremen die Novemberrevolution über die Etappe einer bürgerlich-demokratischen Revolution hinaus und riefen am 10. Januar 1919 die sozialistische Räterepublik Bremen aus. Doch mit der Niederlage der revolutionären Arbeiter in den Januarkämpfen Berlins war auch die Bremer Räterepublik isoliert. Am 4. Februar wurde sie durch konterrevolutionäre Reichstruppen niedergeworfen.
„Erziehung der Arbeiterjugend zu Klassenbewusstsein“ – Die Hamburger Arbeiterju-gendbewegung in Weltkrieg und Novemberrevolution ist der Titel des Beitrags von Kurt Baumann. Er kritisiert die Unterstellung bürgerlicher und rechtssozialdemokratischer Geschichtsschreibung, die legalen, halblegalen und illegalen Antikriegsaktivitäten von Hamburger Arbeiterjugendbünden, die seitens der SPD-Führung behindert und unterdrückt wurden, seien lediglich Ergebnis einer „Instrumentalisierung“ Jugendlicher durch Parteigänger der Bremer Linksradikalen gewesen. Baumann verweist stattdessen auf die eigenständigen, spezifischen Interessen und Bedürfnisse Jugendlicher als Basis für ihren Kampf gegen den Krieg. Er schildert ihr Bemühen um selbstständige Organisation, die Entwicklung ihrer politischen Positionen und zeigt Formen und Beispiele ihrer Antikriegsaktionen in der Heimat und an der Front.
Rainer Zilkenat untersucht anhand des Wirkens des präfaschistischen Agitators Eduard Stadtler und seiner Verbindungen zum Finanzkapital die Rolle des Antibolschewismus im breitgefächerten konterrevolutionären Netzwerk 1918/19. Die Großbourgeoisie stand vor der Aufgabe, sich eine Massenbasis in der Bevölkerung zu sichern. Dazu frisierten sich die im Parlament vertretenen bürgerlich-monarchistischen Parteien in republikanische Nachfolgeparteien um. Zugleich war die Einbindung nicht nur der Mittelschichten nötig, sondern auch eines Großteils der Arbeiterklasse. Die Burg-friedenspolitik der Rechtsozialdemokratie führte schon im Krieg zur Integration von SPD-Politikern und Gewerkschaftsführern in diverse Gremien der staatsmonopolisti-schen Regulierung der Kriegswirtschaft. Während der Novemberrevolution gipfelte diese Kooperation im Stinnes-Legien-Abkommen. Die erheblichen, gewährten Re-formen, wie Achtstundentag, allgemeines Wahlrecht und Gewerkschaftsrechte, sollten die Revolution den Arbeitermassen überflüssig erscheinen lassen. Dies hatte aber einher zu gehen mit zügelloser antibolschewistischer Hetze, weißem Terror, der Dämonisierung und Niederschlagung derer, die sich nicht einbinden ließen. In diesem Segment der Konterrevolution wirkte Stadtlers Antibolschewistische Liga.
Im Beitrag Die deutsche Revolution 1918/19 untersucht Raimund Ernst die Bedeutung des revolutionären Erbes der Novemberrevolution für die Strategieentwicklung der KPD. In der Zeit der revolutionären Nachkriegskrise überwog das Bestreben, die Novemberrevolution als gescheiterte sozialistische Revolution im Klassenkampf für die deutsche Sowjetrepublik zu Ende zu führen. Dieses Ziel erwies sich, angesichts der nicht überwundenen Spaltung der Arbeiterbewegung und der Feindschaft zwischen revolutionärem und reformistischem Flügel, als unrealistisch. Nur wenn die Arbeiterbewegung einheitlich handelte, wie bei der Abwehr des Kapp-Putsches 1920 und beim Volksbegehren für die Fürstenenteignung 1926, konnte sie gegenüber an-deren Schichten zeitweilig hegemonial werden. Erst allmählich und als die Arbeiter-klasse bereits in der Defensive war, konzentrierte sich der Kampf auf die Verteidigung der in der Novemberrevolution zugestandenen, demokratischen und sozialen Rechte. Das setzte die Anerkennung dieser Rechte als verteidigungswertes revolutionäres Erbe voraus. Den Sozialdemokraten wurden Einheitsfrontangebote im Verteidigungskampf unterbreitet. Dies wurde besonders dringlich angesichts der faschistischen Gefahr und nach dem Sieg des Faschismus. Nie verleugnete die KPD dabei ihr Endziel der Diktatur des Proletariats. Auf dem Weg dorthin formulierte sie aber zunehmend Etappenziele, die sie als mögliche „Formen des Herankommens“ an die sozialistische Revolution ansah. Als mögliche Etappenziele sah die KPD Arbeiterregierungen und Volksfrontregierungen zwecks Schaffung einer demokratischen Republik, in der die Wurzeln von Krieg und Faschismus in Form der ökonomischen und politischen Macht des Rüstungs- und Finanzkapitals ausgerottet werden mussten.
Ralf Riedls Beitrag Die Novemberrevolution im Spiegel der marxistischen Historiografie der DDR zeichnet nach, wie sich die Einschätzung der Novemberrevolution durch KPD und SED entwickelte. Im Gegensatz zur BRD nahm die Novemberrevolution in der Geschichtswissenschaft wie auch in der öffentlichen Wahrnehmung der DDR einen wichtigen Platz ein. Als „eine von nicht gerade zahlreichen revolutionären Mas-senaktionen in der deutschen Geschichte“ bildete sie „einen positiven Bezugspunkt“ (214). Zudem verstand sich die DDR als Staat, in dem die politischen, sozialen und ökonomischen Ansätze von 1918/19 umgesetzt wurden. Die DDR-Geschichtsschreibung knüpfte an Aussagen und Bewertungen an der Revolution beteiligter KPD-Politiker an. Liebknecht und Luxemburg hatten im Dezember 1918 gewarnt, dass den Arbeitern die politische Macht bereits wieder entgleite. Liebknecht sprach vom „Widerspruch zwischen der politischen Form der Revolution, die zu großen Teilen der einer proletarischen Aktion entsprach, und ihrem sozialen Inhalt, der der einer bürgerlichen Reformbewegung“ war. Luxemburg sprach vom „Widerspruch zwischen der Zuspitzung der Aufgabe und den mangelnden Vorbedingungen zu ihrer Lösung in einer anfänglichen Phase“ der Revolution (217). Ernst Thälmann sah 1928 anlässlich des 10. Jahrestags der Revolution die Ursache für ihre Niederlage im „Zwiespalt zwischen den objektiven ausgereiften revolutionären Verhältnissen einerseits und der subjektiven Schwäche des deutschen Proletariats, hervorgerufen durch das Fehlen einer zielklaren bolschewistischen Partei, andererseits“ (218). Um die damit schon angeschnittenen Fragen nach Inhalt und Form, bürgerlichem und/oder sozialistischem Charakter der Revolution, subjektiven und objektiven Faktoren, Ergebnissen der Revolution und Zielen ihrer Akteure, drehten sich die, teils streitbaren, Erörterungen der DDR-Geschichtsschreibung bis 1958. In diesem Jahr schrieben Thesen des ZK der SED eine offizielle Interpretation vorläufig fest. Danach handelte es sich bei der Novemberrevolution um eine „bürgerlich-demokratische Revolution, die in gewissem Umfang mit proletarischen Mitteln und Methoden durchgeführt wurde“ (237). Diese Charakterisierung wurde in der Folgezeit nur noch in Nuancen abgewandelt.
Ludwig Elm untersucht die Novemberrevolution im Urteil bürgerlicher und sozialde-mokratischer Politik- und Geschichtswissenschaftler. Zwischen 1848 und 1871 habe sich das einst nur bedingt liberale Bürgertum nach rechts entwickelt, so dass es im Vorfeld des ersten Weltkriegs im Reichstag keine bürgerliche Partei gab, die pro-grammatisch auf demokratische Ziele, wie die parlamentarische Republik, staatsbürgerliche Gleichheit, das Frauenwahlrecht, etc., orientiert gewesen wäre. Alle waren von der nationalistischen, autoritär-militaristischen, imperialistischen und antisozialistischen Prägung des politischen Systems des Deutschen Reichs erfasst, bejahten den Krieg mit mehr oder minder annexionistischen Kriegszielen und hatten sich in der parlamentarischen Monarchie eingerichtet. Entsprechend war ihnen die Novem-berrevolution „von ihren Hauptakteuren und Zielen, in Entstehung und Verlauf sowie manchen Ergebnissen zu proletarisch bis sozialistisch, zu antimilitaristisch und kapi-talismuskritisch“ (263). Der Staatsform Republik mussten ihre Nachfolgeparteien sich anpassen. Zur Abwehr der Gefährdung von Besitz und Macht formierten sie die Koa-lition des Übergangs, die von der rechten Sozialdemokratie bis zu Exponenten des Großkapitals, Junkertums, Militärs, Beamtentums und der Justiz reichte und sich gegen die revolutionäre Linke richtete. Als eines der durchgängigen Elemente dieser Koalition und ihrer Rechtfertigung in der Geschichtsschreibung sieht Elm den Antikommunismus. Elm zitiert Stimmen dieser Koalition aus dem Jahr 1920 und im Kontrast dazu zeitgenössische Demokraten und Pazifisten. Spätere Geschichtsschreibung zu 1917/18 behandelt er u.a. anhand von Heinrich August Winkler und Hans Mommsen. Daneben beschreibt er Geschichtsbilder des völkischen Nationalismus.
Dank der Vielfalt an Perspektiven ist das Buch gut geeignet, die Verarbeitung der Novemberrevolution, ihrer Folgen und Wirkungen bis zur heutigen Zeit und der daraus gezogenen Lehren für die Strategiebildung der Fortschrittskräfte zu vertiefen.
Beate Landefeld

