SPD-Krise und Erneuerungsdiskussion

Von Beate Landefeld

Mit einem Drittel gegen zwei Drittel der Beteiligten votierten beim SPD-Mitgliederentscheid am Ende weniger als erhofft gegen eine weitere Große Koalition. Angesichts der Stimmung unter den Aktiven, in den Ortsvereinen hatten viele ein knapperes Ergebnis erwartet. Immerhin waren bis zum März 2018 Zehntausende ehemalige Mitglieder und Anhänger dem Ruf der GroKo-Gegner „Tritt ein, sag nein!“ gefolgt. Doch sie stellen nur einen kleinen Bruchteil derer, die die SPD in den vergangenen Jahrzehnten verließen. Nach 1945 hatte die SPD ihren Höchststand an Mitgliedern und Wählern am Ende der 1960er und in der ersten Hälfte der 1970er Jahre. Es war die Zeit der APO, der starken außerparlamentarischen Opposition gegen die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg der USA, für die Demokratisierung des Bildungswesens und eine Wende vom Kalten Krieg zur Entspannung. Die APO schuf die Stimmung im Volk, in der Willi Brandts Ruf „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ Resonanz fand. 1968 bis 1976 wuchs die SPD um 40 Prozent auf 1022191 Mitglieder.

 

Mit Helmut Schmidt begann der Abwärtstrend. Ein Schmidt-Spruch war: „Die Profite von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen.“ Er leitete mit Sparpolitik und dem Rollback von Reformen einen sozialreaktionären Ausweg aus der Krise 1974/75 ein, den die herrschenden Klassen wollten und der mit Kohls „geistig moralischer Wende“ nach rechts und mit Schröders Agenda sukzessive in den neoliberalen Umbau überging. Zudem fiel Ende der 1980er Jahre die Systemkonkurrenz weg. Veränderungen in der Klassenstruktur verschoben ebenfalls die Kräfteverhältnisse zuungunsten der Lohnabhängigen. Die in den „30 goldenen Jahren“ nach 1945 erkämpfte soziale Sicherheit wurde durch mehr Unsicherheit, Prekarisierung und wachsende Armut abgelöst. Die Mitgliederzahl der SPD stabilisierte sich 1989 mit der Einverleibung der Ex-DDR zunächst nochmal leicht bei 921430. Danach sank sie im Schnitt um 20000 pro Jahr, im Agenda-Jahr 2003 um 43000. Ende 2016 lag sie bei 432704, um bis März 2018 leicht auf 463722 zu steigen.[1]

Der leichte Anstieg zu Beginn des Wahlkampfs von Martin Schulz bestärkte jene in der SPD, die das Abschmelzen der Partei auf ein Niveau, wie es die Schwesterparteien in Griechenland, den Niederlanden und Frankreich erreicht haben, durch eine sozialere, stärker linksorientierte Politik verhindern wollen. Dass das möglich ist, zeigt Jeremy Corbyn in Großbritannien. In Deutschland wurde der kurze Frühling von Martin Schulz durch Annegret Kramp-Karrenbauers Sieg im Saarland jäh beendet. In der SPD-Führung hielten einige das „Soziale“ ohnehin für das falsche Wahlkampfthema. Aus Sicht von Olaf Scholz muss die SPD durch „Wirtschaftskompetenz“ punkten. Für heutige SPD-Führer bedeutet das die vorauseilende Orientierung an den Vorgaben des Großkapitals. So macht es ja auch die CDU/CSU, die Hauptpartei des deutschen Monopolkapitals, die bei Umfragen seit Jahrzehnten im Bereich „Wirtschaftskompetenz“ die besten Noten erhält. Die Verbände des Kapitals haben allerdings andere Sorgen als die Gewährung von „Sozialgeschenken“ zwecks Rettung der SPD. Für sie ist Schröders Agenda 2010 eine einzige „Erfolgsgeschichte“ und hätte es längst eine Agenda 2020 und eine Agenda 2030 geben sollen. Sie wollen Steuersenkungen und neue TTIP-Gespräche als Antwort auf Trump, Investitionen in Infrastruktur und Digitalisierung statt höhere Sozialabgaben. Den Koalitionsvertrag kritisieren sie von rechts. Auf dem Parteitag der CDU gehörte Multimillionär Werner Bahlsen, Präsident des CDU-Wirtschaftsrats, zu den 27 Gegenstimmen gegen den Koalitionsvertrag.[2]

In Teilen der SPD kam nach dem Mitgliedervotum Verzagtheit auf. Auf Facebook gab es Stimmen wie diese: „In der dritten Auflage einer GroKo unter Merkel und mit diesem Führungspersonal ist eine Erneuerung der SPD ausgeschlossen. Was nun folgt, ist für mich unausweichlich: Parteiaustritt nach 36 Jahren Mitgliedschaft.“ Das blieben aber Einzelstimmen. Trotz Enttäuschung wollen gerade Jüngere und Neueingetretene nicht gleich wieder das Handtuch werfen. Viele traten ein, um der Rechtsentwicklung und dem Aufstieg der AfD etwas entgegen zu setzen. Sie halten die SPD für nötig, jedoch mit einer anderen Politik. Das Bewusstsein, der Kurs der eigenen Parteiführung, vor allem seit Schröders Agenda, sei für den Aufstieg der Rechten mitverantwortlich, ist vorhanden, vor allem bei Aktiven, die das am Infotisch, in der Gewerkschaft und anderswo zu hören bekommen. War früher in der SPD von „Erneuerung“ die Rede, blieb es meist beim schönen Wortgeklingel. Diesmal macht der Rechtsruck in der Gesellschaft die Erneuerung aus Sicht vieler zur Überlebensfrage. Daraus resultiert eine gewisse Entschlossenheit in den Formen ihres Auftretens.

Erneuerung in welche Richtung?

Doch was ist Erneuerung? Ein „schlichter Neuaufguss“ werde nicht genügen, gab sogar der Bundespräsident der frisch gewählten Regierung mit auf den Weg. Vor der Wahl sprach Merkel von einem Deutschland, „in dem wir auch künftig gut und gerne leben wollen“. Nun sind plötzlich alle gegen ein „Weiter so“: Lindners FDP, die Junge Union, Jens Spahn, die Wirtschaft. Lindner-Freund Spahn profiliert sich als Sprachrohr jener aus dem Wirtschaftsflügel, die die neoliberale Modernisierung verschärfen wollen: mehr Flexibilität, Mobilität, Privatisierungen, Abgabensenkungen, keine „sozialen Wohltaten“, kein „Ausruhen“ auf der momentan florierenden Wirtschaft, größere Anstrengungen im härter werdenden globalen Konkurrenzkampf, kein „Aufweichen des Reformdrucks“ in der EU. Am Tag der Wahl der Kanzlerin kündigte Junge-Union-Chef Paul Ziemiak abends bei Maischberger „ein klares Stoppsignal der Union“ an, falls die neue Regierung mit Frankreichs Macron eine „gemeinsame Schuldenübernahme“ vereinbare. Einigen in der CDU/CSU ist Merkel „zu sozialdemokratisch“.

In die entgegengesetzte Richtung gehen die Erneuerungswünsche der GroKo-Gegner der SPD. Sie wollen eine linkere Politik: mehr soziale Gerechtigkeit, spürbare Umverteilung von Oben nach Unten, die Rückkehr zu einer „echten Sozialdemokratie“, wie sie unter Willi Brandt gewesen sei. Sie vermissen an der heutigen SPD Visionen oder wenigstens die Umrisse eines Entwurfs zur Lösung der „großen Fragen unserer Zeit“. „Spiegelstriche“ im Koalitionsvertrag reichen ihnen nicht als Ausweis für sozialdemokratische Politik. Nur wenn die SPD eine klare linke Alternative zur Union verkörpere, könne sie wieder hegemonial werden. In diese Richtung drängen verschiedene Gruppen von GroKo-Gegnern, wie das Forum Demokratische Linke 21 um die baden-württembergische Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis, die 500 Unterzeichner der „Gemeinsamen Erklärung“ von Abgeordneten, Kommunalpolitikern, Gewerkschaftern und Mitgliedern aus Nordrhein-Westfalen, die JuSos, die die No-GroKo-Kampagne konsequent antrieben und durchhielten. Sie alle konzentrieren sich auf soziale Fragen. Die Friedensfrage spielt bisher, wenn überhaupt, nur am Rande eine Rolle. Soweit sie sich zur Europapolitik äußern, wollen sie ein „demokratisches und soziales Europa“, keine Austeritätspolitik und einen „Neustart der EU“.[3]

Nach dem Mitgliedervotum riefen der direkt gewählte Dortmunder SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow und 30 Prominente aus SPD, sozialen Bewegungen, Initiativen und Kleinparteien (Piraten, Demokratie in Bewegung) zur Gründung einer außerparlamentarischen „Progressiven Sozialen Plattform“ auf. Unter den Erstunterzeichnern sind Herta Däubler-Gmelin, Michael Müller (Naturfreunde), der Ökonom Heiner Flassbeck, Susanne Neumann, Ferda Ataman, Raul Krauthausen und Steve Hudson (deutsche Sektion der Labour-Party). Ziel ist zum einen, im außerparlamentarischen Raum Themen von links zu setzen und die von rechts gesetzten Themen zurückzudrängen. Zum anderen soll aus der Gesellschaft heraus Druck für die Erneuerung der SPD geschaffen werden.[4] Bülow lässt offen, ob aus der Plattform irgendwann einmal eine Wahlbewegung werden könnte. Im Vergleich zur von Sarah Wagenknecht angedachten „linken Sammlungsbewegung“, die nie aus den Puschen kam, muss ihm attestiert werden, dass er schneller war. Loslegen wollen die 30 Unterzeichner aber erst, wenn sich ihnen 5000 angeschlossen haben.

Eine andere Initiative trat nach der Regierungsbildung im Bundestag in Erscheinung: Zwölf junge Abgeordnete, laut Spiegel-Online großenteils direkt Gewählte, traten mit einer Erklärung „Die SPD – linke Volkspartei im 21. Jahrhundert“ in Erscheinung, in der sie die Fixierung des Finanzministers Olaf Scholz auf die schwarze Null ablehnen: „Die schwarze Null ist kein finanzpolitisches Programm und kein eigenständiges Ziel. Politische Herausforderungen brauchen politische Antworten. Die notwendige Antwort auf die zu geringe Investitionstätigkeit und die zunehmende soziale Spaltung sind höhere Investitionen in Bildung, Wohnungsbau, Verkehrs- und digitale Infrastruktur sowie eine Veränderung der Einnahmenseite des Bundes. Hohe Einkommen und große Vermögen müssen endlich wieder einen angemessenen Anteil an der Finanzierung gesellschaftlicher Zukunftsaufgaben tragen.“[5] Die zwölf jungen Abgeordneten waren nicht alle gegen die GroKo. Ihre Forderung, die SPD müsse mit aktiver staatlicher Wirtschaftspolitik gemeinsam mit Gewerkschaften, Sozialverbänden und Unternehmensverbänden „die Wirtschaft in Deutschland und Europa als Garant für Fortschritt und Wohlstand ausgestalten“ verrät eine gewisse Realitätsferne.

Idealistisches Staatsverständnis

Illusionen über die Machtverhältnisse in der kapitalistischen Bundesrepublik (wie auch in der EU) und ein idealistisches Staatsverständnis, welches den Staat als Vollzugsorgan des Mehrheitswillens und des Ausgleichs letztlich harmonisierbarer Interessen sieht, kennzeichnen alle derzeit in der SPD kursierenden Erneuerungsvorstellungen. Zwar wollen einige die SPD wieder als „Arbeitnehmerpartei“ sehen, aber wohl nicht so weit gehen, Fragen nach der Klassenherrschaft in unserem Lande zu thematisieren. Marco Bülow berichtet von seiner Erfahrung, dass wichtige Gesetze letztlich nicht von den Bundestagsabgeordneten, sondern von der Exekutive gemacht und im Bundestag nur abgenickt werden. Zwecks Kontrolle, wer bei der Exekutive ein- und ausgeht, fordert er, bisher vergeblich, ein Lobbyregister, wie es in anderen Ländern schon existiert.[6] Doch es sind nicht nur Lobbyisten, die das Regierungshandeln inspirieren. Vielmehr garantiert ein Dickicht aus formellen, informellen, personellen, kulturellen Verflechtungen von Staat, Parteien, Unternehmerverbänden, Thinktanks, Medien, Clubs und Stiftungen dass der Diskurs der Monopolbourgeoisie und der Finanzoligarchie, von deren Entscheidungen die Wirtschaft abhängt, auch die politische Willensbildung im Land bestimmt, während man Organisationen der Lohnabhängigen, Mittelschichten und Verbraucher allenfalls anhört, um sie möglichst konfliktarm in die Politik im Konzerninteresse einbinden zu können.[7]

Illusionen zeigen sich auch in Bezug auf die EU. Hier wird hartnäckig ignoriert, dass die neoliberale Politik in EU und Eurozone in deren Vertragsgrundlagen wurzelt, vor allem den Maastricht-Verträgen, die Bedingung für die Zustimmung der deutschen Bourgeoisie zum Euro waren. Permanente Exportüberschüsse, die, wie die zwölf jungen Abgeordneten feststellen, in Europa zu „wirtschaftlichen Verwerfungen“ führten, gehören seit 1951 zum Geschäftsmodell der deutschen Bourgeoisie. Sie machten die Nachbarländer zu Schuldnern und Deutschland zum Gläubigerland Europas. Die EU-Politik der Berliner Regierung, egal ob Frau Merkel sie mit einem Finanzminister Steinbrück, Schäuble oder Scholz exekutiert, besteht wesentlich aus der Entfaltung von Druck für die Einhaltung des „Stabilitätspakts“. Hier eine Wende zu erzwingen, erfordert eine Veränderung der Kräfteverhältnisse in unserem Land, die nur im härtesten Klassenkampf von unten erreichbar ist. Diese unerledigte „Hausaufgabe“ verschwindet nicht durch die Vision eines solidarischen Europa. Solange sie unerledigt bleibt, existiert real kein solidarisches Europa, sondern die imperialistische EU unter deutscher Dominanz, in der sich die Spaltungen und Verwerfungen vertiefen.

Bei allen Widersprüchen macht die Tatsache, dass es in der SPD wieder eine linke Opposition gibt, zuallererst Hoffnung. Sie zeigt, dass die Klassenwidersprüche in unserem Land, die soziale Polarisierung, die Rechtsentwicklung nicht unbeantwortet bleiben. Sie stoßen auf Gegenwehr, die auch um etablierte und systemintegrierte Parteien keinen Bogen macht. Sie zeigt, dass die Ressourcen der linken Kräfte nicht ausgeschöpft, sondern erweiterbar sind. Eine aktivere SPD-Linke kann zur Stärkung außerparlamentarischer Bewegungen, zur Zurückdrängung der Rechten, zur Sammlung gesellschaftlicher Kräfte beitragen, die mit der Zeit in der Lage sein werden, eine Wende zu Frieden und Abrüstung, zu sozialem und demokratischem Fortschritt zu erkämpfen. Gewiss wird die SPD-Führung nicht untätig zusehen, sondern versuchen, die von der linken SPD-Opposition ausgehenden Impulse zu neutralisieren oder verpuffen zu lassen. Viele der heute rechten SPD-Führer(innen) waren früher auch einmal links. Die Wahrscheinlichkeit von Rückbildungen im Sinne einer Systemintegration sinkt aber im Maße, in dem auch die Linken außerhalb der SPD, die Partei Die Linke und vor allem die marxistische DKP an Stärke und Anziehungskraft gewinnen.

(zuerst erschienen in Marxistische Blätter 3-2018)

 


 

[1] Zahlen bis 1990 nach: Bundeszentrale für politische Bildung; 1990 bis 2017 nach: statista.com

[2] „CDU-Parteitag segnet Koalitionsvertrag ab“, in: Wolfsburger Blatt vom 26.02.2018

[3] Vgl.: „Jetzt SPD erneuern!“ auf http://www.forum-dl21.de; Jan Dieren, Matthias Glomb und Jessica Rosenthal: Where is my Mind? Zur Frage, ob der Koalitionsvertrag Zukunftsvorstellungen bietet – und warum er es nicht tut, in: spw 1-2018, S. 5-7; „Eine neue Zeit braucht eine neue Politik – Gemeinsame Erklärung“ auf http://www.nogroko.nrw; „Wir müssen den exorbitant Reichen etwas wegnehmen“, Interview mit Kevin Kühnert in Zeit online 18.3.2018

[4] https://www.plattform.pro/

[5] http://www.wiebke-esdar.de/neuigkeiten/2018/3/16/die-spd-linke-volkspartei-im-21-jahrhundert

[6] Marco Bülow: Idee zur Progressiven Sozialen Plattform – Auftritt bei WIESO in HH auf YouTube

[7] Vgl. dazu: Ekkehard Lieberam, Parlamentarische Demokratie und Klassenherrschaft, in: Marxistische Blätter 2-2018, S. 24-35

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