Anläufe zur Formierung einer revolutionären deutschen Arbeiterpartei

Von Beate Landefeld

„Die deutsche Arbeiterbewegung und der deutsche Sozialismus hatten von Anbeginn eine internationale Richtung,“[1] beginnt Franz Mehrings Geschichte der Sozialdemokratie. 1815-1830 wurden Demokraten fast überall in Europa polizeilich verfolgt. Politische Flüchtlinge sammelten sich in Paris, London, der Schweiz im Exil. Andere wanderten in die USA aus. Nach der Julirevolution und der belgischen Revolution 1830 zog es Demokraten aller Länder nach Paris und Brüssel. In Paris organisierten sich revolutionäre Arbeiter in sozialistischen Geheimgesellschaften, die, laut Friedrich Engels, „halb Verschwörung, halb Propagandaverein“ waren. Eine war die von Auguste Blanqui geführte Gesellschaft Vier Jahreszeiten. Man übte Systemkritik, diskutierte Gesellschaftsentwürfe und Genossenschaftspläne der utopistischen Sozialisten, bereitete Aktionen vor. Begehrte Lektüre war die Geschichte der Verschwörung der Gleichen, verfasst von Buonarotti, dem Kampfgefährten des hingerichteten Sozialisten Babeuf. Der Bund der Gerechten war der deutsche Zweig der Vier Jahreszeiten. Als 1839 ein Aufstandsversuch fehlschlug, musste er seinen Sitz nach London verlegen. Im industriell entwickelteren England hatte er Kontakt zur Chartistenbewegung. Linke Chartisten, Revolutionäre aus Ungarn und Polen wirkten im Bund mit.

Ihrer sozialen Stellung nach waren die Mitglieder kommunistischer Organisationen damals meist Handwerksgesellen. Wanderjahre gehörten zur Ausbildung. Mehring sprach vom ‚Handwerksburschenkommunismus‘. Wilhelm Weitling war Schneider, Heinrich Bauer Schuhmacher, Josef Moll Uhrmacher, Karl Schapper Forstwirt, zeitweilig Schriftsetzer. Über Schapper schrieb Engels, er habe dem „Musterbild des Revolutionärs von Profession, wie er in den dreißiger Jahren eine Rolle spielte“ entsprochen.[2] Neben Handwerkern wirkten Studierte, versprengte Militärs aus Befreiungskriegen, Schriftsteller mit. Marx und Engels korrespondierten mit dem Bund der Gerechten, traten ihm aber erst 1847 bei, nachdem er sich in London auf ihren kritischen Kommunismus zubewegt hatte. Er nannte sich nun Bund der Kommunisten und beauftragte Marx, Leitsätze zu entwerfen. Es entstand das Manifest. Zugleich warf der Bund die alte konspirative Organisationsstruktur über Bord und gab sich ein Statut, das Wählbarkeit sowie Rechenschaftspflicht der Leitungen vorsah und innere Demokratie mit der zentralisierten, einheitlichen Aktion nach außen verband.

Das Manifest der Kommunistischen Partei stellte dem Kampf der Arbeiter ein wissenschaftliches Weltbild und die dialektisch-materialistische Geschichtsauffassung zur Verfügung. Es analysierte die ökonomische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft und leitete aus dem Klassengegensatz die eigenständigen Interessen der Arbeiterklasse gegenüber der Bourgeoisie ab. In der geschichtlichen Bewegung der Arbeiter sah es die Triebkraft zur Überwindung des Kapitalismus als letzter Ausbeuterordnung. Anders als die Utopisten, die mit Gesellschaftsentwürfen die Regierenden überzeugen wollten und die Arbeiter primär als leidende Klasse sahen, setzte das Manifest auf die Selbsttätigkeit der Lohnabhängigen. Ziel war die „Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie“. Das Proletariat werde seine politische Herrschaft „dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.“ Dann folgen 10 Forderungen (Enteignung des Grundeigentums, starke Progressivsteuer, Verstaatlichung des Kreditwesens, u.a.), von denen es heißt, dass sie für sich genommen „unzureichend und unhaltbar erscheinen“ mögen, aber „im Lauf der Bewegung über sich selbst hinaustreiben […]“[3] An die Rolle der Kommunistischen Partei wurden Anforderungen formuliert, an denen sich alle KPs seither messen lassen müssen: „Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des gesamten Proletariats getrennten Interessen. Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen. Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, dass sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andererseits dadurch, dass sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten. Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.“[4]

Die Anliegen des Manifests gingen weit über die Ziele der 1847 teils noch bevorstehenden, teils nicht zu Ende geführten, bürgerlichen Revolutionen hinaus. Gleichwohl orientierte das Manifest die Kommunisten auf das Eingreifen in diese Revolutionen. Für Deutschland schätzte es ein, seine späte bürgerliche Revolution könne, dank der Reife der subjektiven und objektiven Bedingungen (im Vergleich zu England im 17. und Frankreich im 18. Jahrhundert), „nur das unmittelbare Vorspiel der proletarischen Revolution sein“. Marx benutzte dafür den Begriff der „Revolution in Permanenz“.[5] Gemeinsam mit der Bourgeoisie wollten die Kommunisten die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die (zünftlerische) Kleinbürgerei bekämpfen, um nach dem Sturz der reaktionären Klassen sofort den Kampf gegen die Bourgeoisie selbst zu beginnen. Nach den Niederlagen 1848/49 analysierte die Zentralbehörde des Bunds im März 1850 dessen tatsächliche Rolle in der Revolution. Seine revolutionserfahrenen Mitglieder hatten in den Kämpfen vielerorts eine herausragende Rolle gespielt. Auch die Analyse des Charakters der Revolution sei richtig gewesen. Die Auffassungen der Kommunisten seien mittlerweile überall Thema.

Die Rolle des Bunds in der 1848er Revolution

Die Zentralbehörde stellte aber nüchtern fest: „Zu gleicher Zeit wurde die frühere feste Organisation des Bundes bedeutend gelockert. Ein großer Teil der Mitglieder, in der revolutionären Bewegung direkt beteiligt, glaubte die Zeit der geheimen Gesellschaften vorüber und das öffentliche Wirken allein hinreichend. Die einzelnen Kreise und Gemeinden ließen ihre Verbindungen mit der Zentralbehörde erschlaffen und allmählich einschläfern. Während also die demokratische Partei, die Partei der Kleinbürgerschaft, sich in Deutschland immer mehr organisierte, verlor die Arbeiterpartei ihren einzigen festen Halt, blieb höchstens in einzelnen Lokalitäten zu lokalen Zwecken organisiert und geriet dadurch in der allgemeinen Bewegung vollständig unter die Herrschaft und Leitung der kleinbürgerlichen Demokraten.“ Zu beachten war, dass eine Avantgarderolle ohne Organisationsdisziplin nicht zu erringen ist.

Zu den Empfehlungen, die das eigenständige Auftreten der revolutionären Arbeiter sichern sollten, gehörte eine Wahltaktik, auf die sich heute auch die DKP beruft: Komme es zur Wahl einer Nationalvertretung müsse das Proletariat dafür sorgen, „dass überall neben den bürgerlichen demokratischen Kandidaten Arbeiterkandidaten aufgestellt werden, die möglichst aus Bundesmitgliedern bestehen müssen und deren Wahl mit allen möglichen Mitteln zu betreiben ist. Selbst da, wo gar keine Aussicht zu ihrer Durchführung vorhanden ist, müssen die Arbeiter ihre eigenen Kandidaten aufstellen, um ihre Selbständigkeit zu bewahren, ihre Kräfte zu zählen, ihre revolutionäre Stellung und Parteistandpunkte vor die Öffentlichkeit zu bringen.“[6] Die ersten Jahre nach 1848 hatte der Bund noch 7 örtliche Gemeinden. Er versuchte, sich zur reorganisieren, illegale und legale Arbeit zu verbinden. Die Verhaftung der Kölner Zentralbehörde 1851 setzte der zentral geleiteten Tätigkeit ein Ende. 1852 löste sich der Bund auf. Viele seiner Mitglieder blieben in Arbeiterbildungsvereinen, Turnvereinen, Genossenschaften und Vorläufern gewerkschaftlicher Vereinigung aktiv. Einige gingen in die USA. Andere resignierten. Wieder andere stiegen ins Bürgertum auf.

Die 1850er Jahre brachten einen Konjunkturaufschwung und Fortschritte der Industrialisierung durch Eisenbahnbau, die Entwicklung der Schwerindustrie und Maschinenbau. Die Arbeiterklasse wuchs, aber noch waren drei Viertel der Erwerbstätigen Handwerker und Bauern. Ihnen drohte, wie das Beispiel der Weber zeigte, die Subsumierung unter das Kapital. 1857 kam es zur Krise und zu Arbeiterstreiks. Das Bedürfnis nach selbstständiger Organisation, nach Vereins- und Koalitionsfreiheit erwachte wieder. Ermutigung ging 1860 von der italienischen Einigung aus. Kirchliche, bürgerliche, kleinbürgerlich-demokratische Kreise bemühten sich, Arbeiter mit Bildungsangeboten, Selbsthilfevereinen, Konsum- und Kreditgenossenschaften einzubinden. Im Mittelpunkt der Politik stand die 1848 ungelöst gebliebene nationale Frage. Der 1859 gebildete Deutsche Nationalverein setzte mehrheitlich auf die ‚kleindeutsche Lösung‘ unter Führung Preußens. Gegner des Militarismus und Demokraten hielten am Ziel der ‚großdeutschen Lösung‘ von unten fest. 1861 gründete sich die Fortschrittspartei. Sie und der Nationalverein stellten den Arbeiterbildungsvereinen Redner, meist alte 1848er. 1862 ermöglichte der Nationalverein einer 50-köpfigen Arbeiterdelegation den Besuch der Londoner Weltausstellung, wo es zu Treffen mit englischen und französischen Arbeitern und mit Emigranten, darunter Karl Marx, kam. Danach wurde an einigen Orten die Frage einer selbstständigen Arbeiterpartei erörtert. In Leipzig entstand ein Zentralkomitee zur Einberufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Congresses. Ihm gehörten der Schuhmacher Julius Vahlteich, der Chemiker Otto Dammer und der Zigarrenarbeiter Friedrich Wilhelm Fritzsche an. Letzterer hatte in der 1848er Revolution die Assoziation der Cigarren-Arbeiter, Vorläuferin der heutigen Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten, gegründet.

Lasalles Ansichten

Das Zentralkomitee bat Ferdinand Lasalle um Stellungnahme. Lasalle hatte in der 1848er Revolution mit dem Bund der Kommunisten kooperiert und 1862 ein ‚Arbeiterprogramm‘ publiziert, das Marx als „schlechte Vulgarisation des Kommunistischen Manifests“ ansah.[7] Lasalle schickte dem Zentralkomitee ein ‚Offenes Antwortschreiben‘. Darin lehnte er zwei in den Arbeitervereinen gängige Ansichten ab: (1) „dass Sie sich überhaupt um die politische Bewegung nicht zu kümmern hätten und diese interesselos für Sie sei“; (2) „dass Sie sich als den Anhang der preußischen Fortschrittspartei zu betrachten, und den selbstlosen Chor und Resonanzboden für sie abzugeben hätten.“ Der Arbeiterstand müsse sich „als selbständige politische Partei konstituieren und das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu dem prinzipiellen Losungswort und Banner dieser Partei machen. Die Vertretung des Arbeiterstandes in den gesetzgebenden Körpern Deutschlands — dies ist es allein, was in politischer Hinsicht seine legitimen Interessen befriedigen kann.“ Das sei auch Voraussetzung zur Lösung der sozialen Frage. Ein ‚ehernes Lohngesetz‘ bedinge, dass die Reallöhne sich immer nur auf das Existenzminimum einpendeln. Um dies zu sprengen, müssten die Arbeiter mit ‚Staatshilfe‘ in großem Maßstab ‚Produktivassoziationen‘ bilden: „Die Aufhebung des Unternehmergewinns in der friedlichsten, legalsten und einfachsten Weise, indem sich der Arbeiterstand durch freiwillige Assoziationen als sein eigener Unternehmer organisiert, […] das ist die einzige wahrhafte, die einzige seinen gerechten Ansprüchen entsprechende, die einzige nicht illusionäre Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes.“[8] Lasalle vertrat auch die Ansicht, gegenüber der Arbeiterklasse seien alle anderen Klassen nur eine ‚reaktionäre Masse‘.

Im Verlauf von 1863 nahmen das Leipziger Zentralkomitee und Arbeiterversammlungen einer Reihe von Städten Lasalles Programm an. Delegierte gründeten den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV). Seine Struktur war straff zentralistisch. Der für 5 Jahre gewählte Präsident besaß nahezu diktatorische Vollmachten.[9] Als Lasalle 1864 im Duell starb, hatte der ADAV 4600 Mitglieder. Den Höhepunkt erreichte die Lasalle‘sche Sammlungsbewegung erst unter seinem Nachfolger Johann Baptist von Schweitzer. Marx, der Lasalle seit den Tagen der Neuen Rheinischen Zeitung kannte, bekämpfte dessen These vom ‚ehernen Lohngesetz‘ als Hemmnis für den gewerkschaftlichen Kampf. Er lehnte Lasalles idealistische Staatsauffassung ab, die die Klassennatur des Staats ignorierte. Vor allem aber nahmen Marx und Engels Lasalle übel, dass er auf den preußischen Weg der Reichseinigung setzte und mit Bismarck anbandelte, von dem er sich das allgemeine Wahlrecht erhoffte. Andererseits unterstützten sie sein Eintreten für die Lösung der Arbeiter von der Fortschrittspartei. Sie traten daher zunächst nicht öffentlich gegen ihn auf und wurden, wie auch Wilhelm Liebknecht, Mitarbeiter der Zeitung des ADAV, des Social-Demokrat. Doch 1865 brachen sie mit dem Blatt, da es ihrer wiederholten Forderung, „dass dem Ministerium und der feudal-absolutistischen Partei gegenüber eine wenigstens ebenso kühne Sprache geführt werde, wie gegenüber den Fortschrittlern“ nicht nachgekommen sei.[10] Georg Herwegh und andere Autoren schlossen sich der Erklärung an.

Bei weitem nicht alle Arbeitervereine machten beim ADAV mit. Kurz nach dessen Gründung traf sich der Vereinstag Deutscher Arbeitervereine (VDAV). Er stand unter dem Einfluss von Fortschrittspartei und Nationalverein. Freizügigkeit, Genossenschaftswesen, Versicherungen und „alles, was auf die Wohlfahrt der arbeitenden Klassen von Einfluss sein kann“, waren die Ziele. Er förderte die Bildung gewerkschaftlicher Organisationen. Ihm gehörten Vereine des gesamten Deutschen Bunds an. Als der Krieg 1866 eine Vorentscheidung für die kleindeutsche Lösung brachte, verkleinerte sich der VDAV. Zugleich lief das Bürgertum mit fliegenden Fahnen ins Bismarcklager über. Gegen den Anpassungskurs bildete sich die Sächsische Volkspartei (SV) aus Linksliberalen, Demokraten und Anhängern der 1864 in London gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation (IAA). Darunter waren der 27-jährige Sattlergeselle August Bebel und der 14 Jahre ältere Wilhelm Liebknecht. Sie zogen für die Volkspartei in den Reichstag des Norddeutschen Bunds und nabelten den VDAV vom Bürgertum ab. 1869 entstand aus VDAV, Sächsischer Volkspartei und einer ADAV-Abspaltung um Wilhelm Bracke die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands (SDAP). Ihr Eisenacher Programm forderte den „freien Volksstaat“ und die „Abschaffung aller Klassenherrschaft“. Die SDAP wurde eine Sektion der IAA.

Die konkurrierenden Arbeiterparteien der Eisenacher und Lasalleaner gingen nicht zimperlich miteinander um. Beschimpfungen, das gegenseitige Sprengen von Veranstaltungen waren üblich. Beide waren im Reichstag. Die SDAP folgte der IAA, aber auch der ADAV hatte die Inauguraladresse 1864 vollständig im Socialdemokrat abgedruckt. Beide stimmten im Krieg 1870/71 nach dem Sieg über Napoleon bei Sedan gegen die Kriegskredite, stellten sich dem nationalen Taumel entgegen und verteidigten die Pariser Kommune gegen antikommunistische Hetze. Beide wurden verfolgt, ihre Führer eingekerkert, ihre Versammlungen verboten. So näherte man sich in der Praxis an und wuchs der Wunsch nach Einigung. Es kam zu Wahlabsprachen und schließlich zum Gothaer Vereinigungsparteitag 1875. Das Gothaer Programm entsetzte allerdings Marx und Engels. Die Lasalleaner, die die Mehrheit der Delegierten stellten, hatten alle ihre Reizwörter im Programm verewigt, vom ‚ehernen Lohngesetz‘, über die ‚Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe‘ und den ‚vollen Arbeitsertrag‘, bis zur Aussage, außer dem Proletariat seien alle Klassen und Schichten ‚eine reaktionäre Masse‘. Marx schrieb seine berühmten Randglossen zur Kritik des Gothaer Programms. Sie rechneten nicht nur mit dem Lasalleanismus ab. Sie enthielten bedeutende Hinweise zur Zukunftsgesellschaft des Sozialismus/Kommunismus. Marx zeigte sich auch enttäuscht von den Eisenachern, deren Handschrift im Gothaer Programm nur in der „aller Welt bekannten, demokratischen Litanei“, einem „Echo der bürgerlichen Volkspartei“ erkennbar sei.[11] Das Programm hatte Wilhelm Liebknecht ausgehandelt. August Bebel saß im Gefängnis. Bebel versuchte, Marx zu beruhigen: das Ganze sei „eine Erziehungsfrage“ und es gelte, „Geduld zu haben.“[12]

1878 wurde die vereinigte Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) bereits verboten, über ihre Hochburgen der ‚kleine Belagerungszustand‘ verhängt. Sie überstand 12 Jahre Repression und Verfolgung. Durch Kombination von legaler und illegaler Arbeit hielt sie ihren Zusammenhalt aufrecht. Ihre Anhänger trafen sich in Turnvereinen, Gesangvereinen, Genossenschaften, Naturfreundegruppen, Zirkeln. Beerdigungen wurden zu Massendemonstrationen. Der Sozialdemokrat wurde illegal verbreitet. 1883 kam das legale, von Karl Kautsky herausgegebene theoretische Organ Neue Zeit hinzu. Die als Einzelpersonen gewählten Reichstagsabgeordneten erreichten auch über die bürgerliche Presse die Öffentlichkeit. 1889 beteiligte sich die SAP an der Gründung der 2. Internationale und an dem Aufruf, mit Demonstrationen den 1. Mai 1890 zum internationalen Kampftag zu machen.[13] Als 1890 das Sozialistengesetz fiel, war die Partei stärker als je zuvor. Hatte sie 1877 bei der Reichstagswahl 9 Prozent erreicht, waren es 1893 über 23 Prozent. Marx‘ Kritik des Gothaer Programms erschien erst 1890 in der Neuen Zeit. 1891 gab sich die Partei, sie hieß nun SPD, das Erfurter Programm. Bebel, Kautsky und Bernstein erarbeiteten es. Engels war Berater. Das Programm unterschied grundsätzliche Ziele, wie die „Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln […] in gesellschaftliches Eigentum“ und die „politische Macht der Arbeiterklasse“, von den „nächsten Zielen“, von Reformforderungen, wie allgemeines Wahlrecht und 8-Stunden-Tag.[14] Das Erfurter Programm war das erste wirklich marxistische Programm der SPD.

Engels zum Stellenwert des Stimmrechts

In den 1890er Jahren galt die SPD in der Zweiten Internationale als Vorbild, weil sie, wie Engels 1895 in seiner Einleitung zu Marx‘ Klassenkämpfe in Frankreich schrieb, „die stärkste, die disziplinierteste, die am raschesten anschwellende sozialistische Partei“ war. Zudem hatten die deutschen Arbeiter „ihren Genossen aller Länder eine neue, eine der schärfsten Waffen geliefert, indem sie ihnen zeigten, wie man das allgemeine Stimmrecht gebraucht“. Das Wahlrecht erlaube, die eigene Stärke und die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft korrekt einzuschätzen. Es könne „vor unzeitiger Zaghaftigkeit“ wie vor „unzeitiger Tollkühnheit“ bewahren, sei ein Mittel, noch fernstehende Massen zu erreichen und eröffne eine Tribüne zur Aufklärung des Volkes. Durch Technikentwicklung und Erfahrungen des Militärs seien Barrikadenkämpfe mittlerweile für das Militär günstiger, für die Zivilkämpfer ungünstiger geworden. Werde dies nicht durch andere Momente, wie die größere Zahl der Aufständischen, ausgeglichen, seien Straßenkämpfe künftig nicht zu gewinnen. „Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewussten Minoritäten an der Spitze bewusstloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintreten.“[15] Aus Angst vor einer neuen ‚Umsturzvorlage‘, die dem Reichstag vorlag, brachte das SPD-Organ Vorwärts Engels‘ Einleitung in einer derart verstümmelten Form, dass er sich als „friedfertigen Anbeter der Gesetzlichkeit quand même“ diffamiert sah. Parlamentarische Kampfformen zu verabsolutieren, lag ihm fern. Er wollte die Rolle des Stimmrechts realistisch einordnen. Das hinderte einige SPD-Führer nicht, die ‚Einleitung‘ reformistisch auszulegen. Ihr vollständiger Text wurde erst 1930 in der Sowjetunion veröffentlicht.[16] Die Neigung zum Nur-Parlamentarismus war Folge staatlichen Repressionsdrucks. Zugleich war die Abgrenzung zu anarchistischen Kräften, die die Partei mit provokatorischen Aktionen gefährdeten, unumgänglich, was die Ängstlichkeit und den Legalismus noch förderte.

1890 bis 1913 verdoppelte sich die deutsche Wirtschaftsleistung. Elektroindustrie und chemische Industrie begannen ihren Aufstieg. Die Arbeiterschaft wuchs. Die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften stiegen von 49055 im Jahr 1877 auf über 200000 nach 1890.[17] Regierung und Unternehmer begegneten dem Wählerzuwachs der SPD und dem Wachstum der Gewerkschaften mit Zuckerbrot und Peitsche. Neben Repression und Verbotsdrohungen wurde auch die Lage der Arbeiterschaft verbessert. Die SPD-Führung sah das als Bestätigung ihrer Stärke. „Auf diesem Boden der rasch stark und stärker werdenden SPD verbreitete sich die Hoffnung, dieses ständige mechanische Anwachsen ebne den Weg in den Sozialismus so sehr, dass sich das Revolutions-Problem immer mehr und mehr in ein Thema der Rhetorik verwandelte.“[18] Eduard Bernsteins Vorstoß, die Revolution programmatisch fallenzulassen, wurde aber abgewehrt. Rosa Luxemburg schrieb Sozialreform und Revolution. Bebel lehnte auf dem Parteitag 1903 eine Revision des Programms ab. Die russische Revolution 1905 löste Diskussionen über den politischen Massenstreik aus. Der Jenaer Parteitag beschloss, das allgemeine Wahlrecht und das Koalitionsrecht notfalls mit einem Massenstreik zu verteidigen. Die zentrale Leitung der Gewerkschaften sah darin ein „Spiel mit dem Feuer“. Aus Sicht des Großteils der Reichstagsfraktion war ebenfalls für politische Ziele nur das Parlament zuständig. Der Parteitag 1906 machte den „Rückhalt“ der Gewerkschaften zur Bedingung für politische Streiks.

Um 1900 traten die Großmächte ins Stadium des Imperialismus. John A. Hobson beschrieb ihn 1902 als Ergebnis übergroßer Produktionskräfte und eines Kapitalüberschusses, der mangels inländischer profitabler Anlagemöglichkeit ins Ausland dränge. Rudolf Hilferding analysierte 1910 die Bildung von Monopolen bei Industrie und Banken und die Verschmelzung von Bank- und Industriekapital zum Finanzkapital. Rosa Luxemburg kam 1913 zu dem Schluss, der Kapitalismus verzögere seinen Zusammenbruch durch Ausdehnung in nichtkapitalistische Gebiete. W. I. Lenin definierte 1916, Imperialismus sei „der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen [hat] und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen“ sei. Aufgrund der ungleichmäßigen Entwicklung war England gegenüber Deutschland und den USA ökonomisch zurückgefallen, aber noch größte Kolonialmacht. Konkurrenz und Rivalität mussten irgendwann in gewaltsame kriegerische Neuaufteilung umschlagen, zumal der Krieg auch ein Ventil war, um von inneren Krisen abzulenken.[19]

Deutschland war am Wettrüsten der Großmächte beteiligt. Der Kolonialkrieg gegen die Hereros und die Marokkokrise zeigten die Aggressivität des deutschen Imperialismus. 1913 lehnte die Reichstagsfraktion zwar eine Militärvorlage ab, stimmte aber dem Deckungsbeschluss zu, weil er die höhere Besteuerung der Besitzenden vorsah. Faktisch gab sie das früher von Bebel vertretene Prinzip ‚Diesem System keinen Mann und keinen Groschen‘ auf. Rosa Luxemburg mahnte, die Partei müsse eingefahrene Gleise verlassen: „Die imperialistische Periode, die verschärften Verhältnisse der letzten Jahre stellen uns aber vor neue Aufgaben. Die Notwendigkeit, der Partei bei all ihrer massiven Breite eine größere Beweglichkeit, Schlagfertigkeit und Aggressivkraft zu verleihen, die Massen mobil zu machen und ihren unmittelbaren Druck in die Waagschale der Ereignisse zu werfen, all das erfordert mehr als das krampfhafte Festhalten an den äußeren Formen der ‚alten bewährten Taktik‘.“[20] Der SPD mangelte es, wie der Beginn des Weltkriegs zeigte, an einer der imperialistischen Periode adäquaten Schlagkraft. Die Beschlüsse der II. Internationale von 1907 und 1912, wonach es „den Ausbruch des Krieges zu verhindern“ galt und „falls er dennoch ausbricht, für seine rasche Beendigung zu sorgen“ sei, auch durch „Aufrüttelung des Volkes“ gegen die Kapitalherrschaft, blieben Papier. Die Führer sozialdemokratischer Parteien, allen voran der SPD, schwenkten im August 1914 auf ‚Vaterlandsverteidigung‘ und ‚Burgfrieden‘ mit der eigenen Bourgeoisie ein.

Keine dem Imperialismus angemessene Schlagkraft

Im Reichstag stimmte 1914 nur Karl Liebknecht gegen die Kriegskredite. Sehr langsam kamen im Verlauf des Krieges weitere Nein-Sager hinzu. Mit Kriegsbeginn setzten aber auch Neuformierungsprozesse ein. Sie führten über die Gruppe Internationale, später die Spartakusgruppe und den Spartakusbund, zu einem dritten Anlauf für eine deutsche revolutionäre Arbeiterpartei. Träger waren zunächst marxistische Kräfte des früheren, linken Flügels der SPD, wie Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Wilhelm Pieck, Käte und Hermann Duncker, Hugo Eberlein, Ernst Meyer. 1917 entstand zudem die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD), aus Vertretern des ehemaligen Zentrums, wie Haase, Ledebour, Kautsky, aber auch Bernstein. Gemeinsamer Nenner war die Ablehnung des Krieges. Die Spartakusgruppe trat – bei Wahrung ihrer Autonomie – der USPD bei. Unter revolutionären Arbeitern besaß die USPD Masseneinfluss. Die Spartakusleute genossen Ansehen, stellten aber, wie sich in der Novemberrevolution zeigte, in den Räten und unter den revolutionären Obleuten nur eine kleine Minderheit. Hinzu kam, dass die Mehrheits-SPD den Großteil der Arbeiterbürokratie, der Funktionäre in Partei, Gewerkschaften und Genossenschaften hinter sich hatte. Letztere dominierten auch den Reichsrätekongress im Dezember 1918, der die Weichen gegen eine Räterepublik, für ein bürgerliches Parlament stellte und der den Rat der Volksbeauftragten aus SPD und USPD wählte.

Der Gang der Revolution selbst hatte die Notwendigkeit einer eigenständigen revolutionären Partei gezeigt. Die Gründung der KPD erfolgte am Jahreswechsel 1918/19. Es gelte, „an Stelle der revolutionären Stimmung allenthalben die unbeugsame revolutionäre Überzeugung, an Stelle des Spontanen, das Systematische zu setzen“, schrieb Rosa Luxemburg am 3. Januar in der Roten Fahne.[21] Neben dem Spartakusbund beteiligten sich die Bremer Linksradikalen und eine kleine Minderheit der revolutionären Obleute, die mit einer Verhandlungsdelegation angereist waren, an der Gründung. Das Programm orientierte sich am Kommunistischen Manifest. „Wir sind wieder bei Marx“, rief Rosa Luxemburg. Unter lebhaftem Beifall der Versammlung rechnete sie scharf mit dem Nur-Parlamentarismus der alten SPD ab. Den Antrag, sich an den Wahlen zur Nationalversammlung zu beteiligen, um auch die noch indifferenten Massen anzusprechen, lehnten die Delegierten mit 62 gegen 23 Stimmen ab. Nicht nur bestand unter revolutionären Arbeitern eine tiefe Abneigung gegen diese besondere Wahl – es gab bei der Gründungsversammlung auch nicht wenige, die generell gegen die Beteiligung an bürgerlichen Wahlen waren. In der Organisationsfrage schlug Hugo Eberlein vor, „kommunistische Gemeinschaften in den Betrieben“ zu gründen, um die Schlagkraft zu erhöhen. Für die Weiterarbeit an Programm und Statut setzte man eine Kommission ein. Der Stand der Revolution bewegte die Delegierten vor allem anderen. Die erste Phase der Revolution, so führte Rosa Luxemburg aus, war beendet. In ihr waren drei Illusionen zerplatzt: Die Illusion der revolutionären Arbeiter über die angebliche „Einheit der Sozialisten“, die Illusion Eberts, die von der Front zurückkehrenden Soldaten ließen sich gegen die Arbeiter einsetzen, und die Illusion der Bourgeoisie, Ebert beherrsche die Revolution. Die zweite Phase der Revolution werde eine weitaus gewaltsamere Konterrevolution auf den Plan rufen. Zugleich werde der ökonomische Klassenkampf schärfer werden. Das System der Arbeiter- und Soldatenräte sei nach allen Richtungen auszubauen, auch Landarbeiter und Kleinbauern einzubeziehen. Die Räte müssten „Hebel der Staatsmaschinerie“ werden, der bürgerliche Staat von unten „ausgehöhlt“ werden.[22]

Leider nahmen die Dinge eine andere Richtung. Luxemburg und Liebknecht wurden in den Januarkämpfen von rechten Freikorps ermordet. Bis zum Sommer schlugen Freikorps und kaiserliche Truppenteile die Räte im ganzen Reich nieder. Viele Revolutionäre wurden in oder nach den Kämpfen getötet oder, wie der KPD-Vorsitzende Leo Jogiches, im Gefängnis umgebracht. Bei den Reichstagswahlen am 19. Januar kandidierte die KPD nicht. Unter bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen stimmten für die SPD 37,9 Prozent, für die USPD 7,6. Anders sah es bereits 1920 aus. Bei den Reichstagswahlen, die nach dem Generalstreik gegen den Kapp-Putsch stattfanden, erhielten die KPD 2,1 Prozent, die USPD 17,9 und die SPD 21,6 Prozent. Zur Massenpartei wurde die KPD, nachdem die USPD mit Mehrheit beschloss, der 1919 in Moskau gegründeten Kommunistischen Internationale beizutreten, wofür ihr Zusammenschluss mit der KPD Voraussetzung war. Er erfolgte im Dezember 1920.

(Der Beitrag erschien zuerst gekürzt in Marxistische Blätter 5-2018)


[1] Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Stuttgart 1906, 4 Bde, Bd 1, S. 3

[2] Friedrich Engels, Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, MEW 21, S. 207

[3] Marx / Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 481f.

[4] Ebenda, S. 474

[5] Ebenda, S. 493; Marx / Engels, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März, MEW 7, S. 254

[6] Ebenda, S. 251

[7] Vgl. MEW 15, S. 709.

[8] Zitiert nach: https://www.marxists.org/deutsch/referenz/lassalle/1863/03/antwortschreiben.htm

[9] Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Ges. Schriften Bd. 2, Berlin 1980, S. 58

[10] Karl Marx / Friedrich Engels, Erklärung, MEW 16, S. 79

[11] Karl Marx, Zur Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 19-32

[12] August Bebel, Aus meinem Leben, Berlin 1961, S. 521

[13] Die IAA hatte 1872 die Bildung nationaler Arbeiterparteien empfohlen und sich 1876 aufgelöst.

[14] http://www.erfurt-web.de/Text_Erfurter_Programm

[15] Engels, Einleitung, MEW 22, S. 517ff., 523

[16] Vgl. dazu MEW 22, S. 509ff. und die Erläuterungen der Fußnote 433, MEW 22, S. 644f.

[17] Wolfgang Abendroth, Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung, Ffm 1969, S. 66f.; Georg Fülberth / Jürgen Harrer, Arbeiterbewegung und SPD 1890-1933, Neuwied 1974, S. 50

[18] Robert Steigerwald, Nachdenken anlässlich des 120. Jahrestags des Erfurter Programms der SPD, Marxistische Blätter 6-2011, S. 56

[19] Vgl. W. I. Lenin, der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, LW 22, 1960, S. 271; John Atkinson Hobson, Der Imperialismus, 1968; Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital, 1955; Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Ges. Werke 5, 1975, S. 5-411

[20] Rosa Luxemburg, Nach dem Jenaer Parteitag (1913), Ges. Werke 3, 1973, S.351f.

[21] Rosa Luxemburg, Der erste Parteitag, Ges. Werke 4, S. 516

[22] Bericht über den Gründungsparteitag der KPD, Frankfurt/Main 1978, S. 35

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