Neoliberale Ladenhüter im Gepäck – „Aufbruch“ der Ampel-Koalition

Vor der Nikolauswoche, in der die neue Bundesregierung ins Amt kommen sollte, erwischte die 4. Welle der Corona-Pandemie die „regierungsfähigen“ Parteien auf dem falschen Fuß. Gerade noch hatte der geschäftsführende Gesundheitsminister Spahn (CDU) es für möglich erklärt, die „epidemische Notlage von nationaler Tragweite“ auslaufen zu lassen. Der Ruf der FDP-Führer nach einem deutschen „Freedom-Day“ hallte noch in den Ohren. Da löste ein neues „Infektionsschutzgesetz“ der Ampel die „epidemische Notlage“ ab. „Generelle Lockdowns“ seien nicht mehr nötig, hieß es, während die Infektionszahlen rasch anstiegen. Die CDU/CSU nutzte die Fehleinschätzung, um zur frischgebackenen Oppositionspartei aufzulaufen: Mitten in der 4. Welle den „Instrumentenkasten“ zu reduzieren, sei verantwortungslos.

Freilich hatten bis dahin weder Michael Kretschmer (CDU) noch Markus Söder (CSU), deren Länder niedrige Impfquoten und die höchsten Hospitalisierungsraten aufwiesen, den „Instrumentenkasten“ der epidemischen Notlage genutzt. Die Drohung, das Infektionsschutzgesetz im Bundesrat zu kippen, ließen CDU/CSU erst fallen, nachdem die Ampel zugesagt hatte, es zeitnah mit den Ministerpräsidenten gemeinsam zu überprüfen. „Aushandlungsprozesse“ nach diesem Muster könnten bald zur Regel werden. Der designierte Kanzler Scholz hielt sich bei dem Schlagabtausch zurück. Lindner und die FDP prägten die Covid-19-Strategie der neuen Regierung.

Schon im Herbst hatte das „Sondierungspapier“ von SPD, Grünen und FDP herbe Enttäuschung bei Jugendorganisationen, Sozialverbänden, Klimaschützern, Gewerkschaften und zahlreichen Wählern von Grünen und SPD ausgelöst. In ihm waren alle grundlegenderen ökologisch-sozialen Reformversprechen, die über singuläre Zugeständnisse wie den Mindestlohn von 12 Euro hinausgingen, kassiert. Hartz4 hatte man einfach in „Bürgergeld“ umbenannt und der „Freiheitspartei“ FDP zuliebe selbst das Tempolimit fallengelassen. Die Begründung für das Umschmeicheln der FDP gab Habeck: Diese Partei habe den „weitesten Weg“ zur Ampel zurückzulegen.

Narrativ der „Fortschrittskoalition“

Die Ampelparteien erfanden das gemeinsame Narrativ, eine „Fortschrittskoalition“ zu sein, nicht nur für die nächste Legislaturperiode, sondern „für ein Jahrzehnt der sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen, digitalen und gesellschaftlichen Erneuerung“ (Sondierungspapier). Die im 177 Seiten starken Entwurf des Koalitionsvertrags vereinbarten Hauptvorhaben sind die beiden „großen Transformationen“ Digitalisierung und Klimaschutz.[1] Die Ministerposten waren bei Redaktionsschluss noch nicht endgültig verteilt. Scholz war als Kanzler gesetzt, vorgesehen waren Lindner für Finanzen, Habeck für Wirtschaft und Klimaschutz, Baerbock für die Außenpolitik.

Die Digitalisierung soll die staatliche Verwaltung modernisieren, Genehmigungsverfahren beschleunigen und private Innovationen „entfesseln“. Nach neoliberaler Ideologie steht der Staat dem bisher im Wege. Die in Aussicht gestellten segensreichen Wirkungen der Digitalisierung reichen von „mehr Bürgernähe“ und einer effizienteren Verwaltung bis zur besseren Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen. Doch standen Absichtserklärungen eines schnellen Breitbandausbaus auch schon in den Koalitionsverträgen von 2009, 2013 und 2018. Trotzdem blieben die meisten ländlichen Räume abgehängt und übermittelten während der Coronakrise die Gesundheitsämter ihre täglichen Daten dem Robert-Koch-Institut mit Faxgeräten.

Beim Klimaschutz stehen die Dekarbonisierung und der massive Ausbau erneuerbarer Energien im Vordergrund. Realistischerweise soll der (nicht zuletzt wegen der Elektromobilität) in Zukunft stark ansteigende Strombedarf übergangsweise auch durch den Bau „moderner Gaskraftwerke“ gedeckt werden. Den Kohleausstieg strebt die Ampel „idealerweise bis 2030“ an, statt wie bisher 2038. Bis 2030 sollen 80 Prozent des Strombedarfs aus erneuerbaren Energien kommen, 2045 soll Klimaneutralität erreicht sein. Absichtserklärungen, die in der BRD besonders hohen und derzeit rasant steigenden Strom- und Heizkosten zu senken, fehlen auch nicht. Doch erst 2023 soll die EEG-Umlage wegfallen. Der im Wahlkampf versprochene „soziale Ausgleich“ (Klimageld) bleibt im Koalitionsvertrag ein bloßes, abstraktes Bekenntnis.

Staatliche Investitionen und Anreize des Staats für mehr private Investitionen sollen die beiden großen Transformationen befeuern. Das könne den konjunkturellen Aufschwung nach der Coronakrise verstärken und insgesamt die Wettbewerbsfähigkeit der Exportnation Deutschland erhöhen. Man stelle die Weichen dafür, dass die „soziale Marktwirtschaft“ in eine „sozial-ökologische Marktwirtschaft“ übergehe. Der Koalitionsvertrag befinde sich auf dem 1,5-Prozent-Pfad des Pariser Abkommens.

Möglich, dass das für die Ziele der Energiewende gilt. Vom Willen zu einer ernsthaften Verkehrswende ist dagegen wenig zu spüren. Zwar bekennt man sich zum Ausbau der Schiene, aber im Zentrum der Dekarbonisierung des Verkehrs steht klar die Förderung des Individualverkehrs. Bis 2030 sollen auf Deutschlands Straßen 15 Millionen vollelektrische Pkw rollen. Die nötige Ladesäuleninfrastruktur will der Staat überall dort schaffen, wo private Investoren es nicht tun. Der Koalitionsvertrag liebt das Wort „Markthochlauf“. Deutschland soll Leitmarkt für Elektromobilität werden, Zentrum für Forschung, Fertigung und Recycling von Batteriezellen, globaler Standort für Halbleiterindustrien und nicht zuletzt Leitmarkt für Wasserstofftechnologien.

Die Koalition will jährlich 400 Tausend Wohnungen bauen, ein Viertel mit Sozialbindung. Mietpreisbremsen sind vorgesehen, ein Mietstopp nicht. Ein einmaliger Bonus von 1 Milliarde geht an Pflegekräfte in Krankenhäusern. Gut so, aber nötig wäre die dauerhaft gute Entlohnung, um genug Personal zu gewinnen. Angekündigt ist eine Kindergrundsicherung. Es soll Lockerungen geben, die nichts kosten: die Streichung des §129a, mehr Minderheitenschutz, weitere Diskriminierungsverbote. Cannabis wird legalisiert, das Wahlalter soll auf 16 sinken. Bei der Migration werden Familiennachzug, Aufenthaltserlaubnis und Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erleichtert.

In „sozialliberaler Tradition“?

Bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags prophezeite Lindner, Olaf Scholz werde ein „großer Kanzler“ werden. Er versprach Bildungsförderung zur Einlösung des „Aufstiegsversprechens“. Die FDP, die das Bildungsministerium übernehmen will, knüpfe damit an eine gute „sozialliberale Tradition“ an.[2] Mit dem Vergleich irrt der 1979 geborene Lindner. Das kräftepolitische Umfeld der kurzen, „sozialliberalen Reformära“ der Regierung Brandt/Scheel 1969 bis 1974 war ein völlig anderes als das heutige.

Damals ging ein Zwang zur Anpassung und zu Reformen des staatsmonopolistischen Kapitalismus von der Systemkonkurrenz mit dem sozialistischen Lager, vom Zusammenbruch des Kolonialsystems und von einer starken demokratischen außerparlamentarischen Opposition (APO) im Inneren aus. An der Ablösung von 20 Jahren CDU-geführter Regierungen, an der Bildungsreform, an einem Ende des Kalten Krieges und dem Übergang zur Entspannung waren Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre auch relevante Teile der Bourgeoisie interessiert. Die FDP unter Walter Scheel reflektierte die Wechselstimmung dieses Teils der herrschenden Klasse.

Seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 und im Zuge des Neoliberalismus erleben wir ein Roll-Back der damals erkämpften Reformen, mit Ausnahme von „Kulturreformen“, die mit der Macht des Monopolkapitals vereinbar sind und die sich der Neoliberalismus einverleibte, um für die neuen akademischen Mittelschichten attraktiver zu werden. In den 40 Jahren Neoliberalismus veränderten sich die Kräfteverhältnisse national und international grundlegend zu Lasten der Lohnabhängigen. Lohnabhängige und Gewerkschaften wurden sozial und politisch in die Defensive gedrängt. Erhebliche Teile leben heute in prekären Verhältnissen. Dagegen war der Neoliberalismus für Vermögensbesitzer, Großaktionäre und Reiche eine einzige Erfolgsgeschichte.

Dass das neoliberale Regime die Widersprüche des Kapitalismus nicht löst, sondern nur auf höherer Stufe reproduziert, weiß man spätestens seit der Krise 2008. Nach der Krise ging der Welthandel zurück. Die Investitionszurückhaltung blieb. Der angehäufte Reichtum floss wieder in Finanzmärkte statt in Realinvestitionen. Die Kaufkraft blieb schwach. All das hängt damit zusammen, dass Konjunkturkrisen die akkumulierten Disproportionen heute nicht mehr bereinigen. Die Notenbanken stützen mit der Null-Zins-Politik die Vermögenspreise. Gehen sie gegen die Inflation vor, riskieren sie einen Crash. In der Coronakrise 2020ff. setzt sich die Krise von 2008 fort.

Die internationale Lage ist heute geprägt durch den Abstieg der USA als Hegemonialmacht des Westens und den Aufstieg des Südens, vor allem Chinas. Von dem Bestreben des US-Imperialismus, die Regeln der Weltwirtschaft auch in Zukunft allein zu bestimmen, gehen Tendenzen zur Blockbildung und zum Protektionismus aus. Immer neue Sanktionen, das Schüren von Spannungen, Provokationen und Aufrüstung zielen primär auf die Einkreisung und Eindämmung Chinas und Russlands.

Der Koalitionsvertrag 2021 mit der Überschrift „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit“ wird von drei Parteien getragen, die den Neoliberalismus in der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich mit vorangetrieben haben. Die FDP leitete mit dem Lambsdorff-Papier 1982 das Ende der sozialliberalen Koalition und den Seitenwechsel zu Helmut Kohl ein. Die Grünen als Partei der wachsenden neuen Mittelschichten engagierten sich in den 1980er Jahren in der Friedensbewegung und tendierten zu Koalitionen mit der SPD. In den Schröder/Fischer-Regierungen 1998-2005 mauserten sie sich zur neoliberalen NATO-Partei.

Neoliberal und NATO-treu

Den Weg zur NATO-Partei hatte die aus der Arbeiterbewegung kommende SPD mit dem Godesberger Programm 1959 vollzogen. Die Agenda 2010 der Regierung Schröder/Fischer besiegelte den Übergang zum Neoliberalismus. Die Agenda kostete die SPD im Laufe der Zeit die Hälfte ihrer Wähler, während die Grünen ihre Mittelschichtenklientel in das Bündnis mit dem Monopolkapital „mitnehmen“ konnten und zunehmend als Juniorpartner der CDU fungierten. Es hätte an ein Wunder gegrenzt, wenn diese Parteien 2021 etwas anderes zuwege gebracht hätten als neoliberalen „Fortschritt“. Bemüht, einzelne Auswüchse des Neoliberalismus abzumildern oder umzubenennen, behalten sie die Grundrichtung bei und versuchen sogar, die bereits gescheiterte Politik mit altbekannten neoliberalen Ladenhütern zu „boostern“.

So soll bei der Rente (wieder einmal) eine teilweise „Kapitaldeckung“ eingeführt werden. Man will „Pilotprojekte“ für die weitere Flexibilisierung der Arbeitszeit anstoßen. Minijobs und Niedriglohnsektor sollen erhalten bleiben. Pläne, den Bahnkonzern zu zerschlagen, wurden durch die sofortige Mobilisierung der Eisenbahnergewerkschaft gerade noch verhindert. „Dennoch heißt es für uns: Vorsicht an der Bahnsteigkante“, schreibt die EVG. Auch hier drohte Ausgliederung. „Was die Pläne für die Deutsche Bahn konkret bedeuten, werden wir in den kommenden Monaten sehen. Die EVG ist sehr wachsam und wir werden diesen Prozess sehr kritisch begleiten.“[3] Immerhin zeigt das Handeln der EVG, dass die Rolle der SPD-Führung als Transmissionsriemen von Monopolinteressen in die Arbeiterklasse sich auch mal umkehren lässt.

Alle Vorhaben der neuen Regierung stehen unter Finanzierungsvorbehalt. Ab 2023 soll die „Schuldenbremse“ wieder gelten und will man auch in der EU für die Rückkehr zur sogenannten „Stabilitätspolitik“ sorgen. Investitionen will man mit Hilfe der Förderbanken, durch Kreditaufnahme von Staatsbetrieben und Mobilisierung von privatem Kapital finanzieren. Steuererhöhungen für Reiche lehnt die FDP strikt ab. Finanzminister Lindner sorgt für Kontinuität in der Umverteilung von unten nach oben. Unter neoliberalem Vorzeichen bringt der objektiv arbeitssparende technologische Fortschritt der Digitalisierung nicht mehr freie Zeit für die Lohnabhängigen, sondern längere Arbeitszeiten, mehr Prekarisierung, Erwerbslosigkeit und Unsicherheit.

Für mehr Unsicherheit sorgt zugleich die angedrohte Außenpolitik der Ampel. Ziel sei „eine souveräne EU als starker Akteur in einer von Systemkonkurrenz und Unsicherheit geprägten Welt“. Die EU solle zum „europäischen Bundesstaat“ entwickelt werden. Im Verein mit dem „transatlantischen Wirtschaftsraum“ wolle man „globale Standards setzen“. Das Investitionsabkommen EU-China ist dagegen auf Eis gelegt. Die EU-Militarisierung, die Aufrüstung im Rahmen der NATO oder komplementär zu ihr sollen weitergehen, inklusive „atomarer Teilhabe“ und bewaffneter Kampfdrohnen.

Im Vordergrund der verkündeten „wertebasierten Außenpolitik“ stehen nicht Frieden und Entwicklung, sondern universelle Menschenrechte. Denen wolle man weltweit Geltung verschaffen, während real der Ausbau der Festung EU das Wohlstandsgefälle sichert. Interessengeleitete selektive Wahrnehmung, Doppelstandards, Feindbildpflege, Hetze, Interventions- und Sanktionspolitik sind vorprogrammiert. Was wir dagegen brauchen sind friedliche Koexistenz und internationale Kooperation zur Bewältigung weltweiter Krisen und globaler Menschheitsprobleme. Die Mittel, die die Aufrüstung verschlingt, werden überall für Investitionen in Gesundheit, Umwelt und Entwicklung gebraucht. Dafür wird der Klassenkampf von unten sorgen müssen.

Beate Landefeld (zuerst erschienen in Marxistische Blätter 1-2022)


[1] Koalitionsvertrag: „Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“, Berlin 2021. Aus Gründen der Lesbarkeit verzichten wir beim Zitieren auf Seitenangaben.

[2] Anspielung auf Hildegard Hamm-Brücher (FDP), 1969-1972 Staatssekretärin im Bildungsministerium

[3] https://www.evg-online.org/meldungen/details/news/deutsche-bahn-wird-nicht-zerschlagen-evg-koalition-muss-mehr-schiene-wagen-9324/

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