Lenin zur Arbeitsmigration und die Migration heute

Beate Landefeld

Lenin schrieb 2013 den Artikel ‚Kapitalismus und Arbeiterimmigration‘. An den Anfang stellte er die Wahrnehmung, der Kapitalismus habe „eine besondere Art der Völkerwanderung“ entwickelt. Höhere Löhne in den entwickelten Ländern lockten Arbeiter aus zurückgebliebenen Ländern an, die auf diese Weise in ferne Länder verschlagen und gewaltsam in den Kreislauf des fortgeschrittenen Kapitalismus hineingerissen würden. Dann bewertete Lenin die Migration auf folgende Weise:

Es besteht kein Zweifel, dass nur äußerstes Elend die Menschen veranlasst, die Heimat zu verlassen, und dass die Kapitalisten die eingewanderten Arbeiter in gewissenlosester Weise ausbeuten. Doch nur Reaktionäre können vor der fortschrittlichen Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung die Augen verschließen. Eine Erlösung vom Joch des Kapitals ohne weitere Entwicklung des Kapitalismus, ohne den auf dieser Basis geführten Klassenkampf gibt es nicht und kann es nicht geben. Und gerade in diesen Kampf zieht der Kapitalismus die werktätigen Massen der ganzen Welt hinein, indem er die Muffigkeit und Zurückgebliebenheit des lokalen Lebens durchbricht, die nationalen Schranken und Vorurteile zerstört und Arbeiter aller Länder in den großen Fabriken und Gruben Amerikas, Deutschlands, usw. miteinander vereinigt.“[1]

Im Anschluss beschrieb Lenin das Migrationsgeschehen vor dem ersten Weltkrieg. Haupteinwanderungsland waren die USA mit jährlich über 1 Million Immigranten, deren Zusammensetzung sich nach 1880 von westeuropäischen auf ost- und südeuropäische Arbeiter verschob. Der amerikanische Kapitalismus entriss damit Millionen von Arbeitern aus dem zurückgebliebenen Osteuropa (darunter Russland) ihren halb mittelalterlichen Verhältnissen. Auf diese Weise werde, so Lenin, „den zurückgebliebensten Ländern der Alten Welt, die in ihrer ganzen Lebensordnung die meisten Überreste der Leibeigenschaft bewahrt haben, sozusagen gewaltsam Zivilisation beigebracht.“ Zugleich zitierte er nicht ohne Stolz die Studie eines Migrationsforschers, dem zufolge die nach der Revolution 1905 aus Russland emigrierten Arbeiter „den Geist kühnerer offensiver Massenstreiks auch nach Amerika getragen“ hätten.[2]

Eine andere Verschiebung betraf Deutschland, das sich vom Auswanderungsland (in die USA) in ein Land verwandelt hatte, „das fremde Arbeiter anzieht“. 1911/12 waren es vor allem Russen und Österreicher. Erstere arbeiteten überwiegend in der Landwirtschaft, letztere in der Industrie. Je zurückgebliebener ein Land, desto mehr ungelernte, landwirtschaftliche Arbeiter liefere es, kommentierte Lenin. „Die fortgeschrittenen Nationen reißen sozusagen die besten Verdienstmöglichkeiten an sich und überlassen die schlechteren den wenig zivilisierten Ländern.“ Russland müsse so überall und in jeder Hinsicht für seine Rückständigkeit büßen.[3] Doch die Arbeiter würden der Rückständigkeit bald ein Ende bereiten. Lenin schloss mit den Worten:

„Die Bourgeoisie hetzt die Arbeiter der einen Nation gegen die der anderen auf und sucht sie zu trennen. Die klassenbewussten Arbeiter, die begreifen, dass die Zerstörung aller nationalen Schranken durch den Kapitalismus unumgänglich und fortschrittlich ist, bemühen sich, die Aufklärung und Organisierung ihrer Genossen aus den zurückgebliebenen Ländern zu unterstützen.“[4]

Indem Lenin die Migration – trotz ihrer negativen Aspekte – dem objektiv fortschrittlichen Prozess der weltweiten Vergesellschaftung der Produktion zuordnete, knüpfte er an Marx und Engels an. Auch sie beschrieben Migration als eine Folge des Kapitalismus. Zum einen, weil die Arbeitskraft im Kapitalismus eine Ware ist. Zum anderen fördert der Kapitalismus die Nationsbildung, enthält aber zugleich die Tendenz zur Internationalisierung. Beides beschrieben sie im ‚Manifest‘. Der Zentralisation der Produktionsmittel sei die politische Zentralisation gefolgt, das Zusammendrängen von Provinzen „in eine Nation, eine Regierung, ein Gesetz, ein nationales Klasseninteresse, eine Douanenlinie“. Zugleich habe die Bourgeoisie „zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen“. An die Stelle lokaler und nationaler Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit sei „allseitiger Verkehr“, „allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander“ getreten.[5]

Zu den Bedingungen des Kapitalismus gehört der doppelt freie Lohnarbeiter: frei von Leibeigenschaft, Hörigkeit, Zunftzwang und frei von eigenen Produktionsmitteln. Als Klassen sind Kapitalisten und Lohnarbeiter, wie Marx im ‚Kapital‘ zeigte, „das Resultat einer vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler ökonomischer Umwälzungen, des Untergangs einer Reihe älterer Formationen…“[6] Der ursprünglichen Akkumulation von Kapital in den Händen weniger entsprach auf der Gegenseite die Mobilisierung von Lohnarbeitern durch ihre Freisetzung, durch die Trennung überwiegend bäuerlicher, kleiner Produzenten von ihren Produktions- und Subsistenzmitteln. Das verlief alles andere als idyllisch. Kirchenländer wurden verkauft, Gemeindeeigentum privatisiert, Menschen von Grundstücken vertrieben, ihrer gewohnten Existenzgrundlagen beraubt und zur Lohnarbeit gezwungen.

Dem entsprach die Migration vom Land in die Städte. Trotz brutalem Verlauf war die ursprüngliche Akkumulation der objektiv revolutionäre Prozess des Übergangs von vorkapitalistischen Produktionsweisen zum Kapitalismus. Unter dem Kommando des Kapitals wurden zuvor zersplitterte Arbeiten kleiner Produzenten vergesellschaftet, ökonomische Stagnation überwunden, bedeutende Teile der Bevölkerung dem „Idiotismus des Landlebens entrissen“.[7] Die Lage der arbeitenden Klassen war durch Elend geprägt, aber sie gewannen als Proletarier die Potenz, eine organisierte Kraft zu werden und im Klassenkampf im Laufe der Zeit beachtliche Erfolge zu erringen.

Produktion der relativen Übervölkerung

Nicht nur die ursprüngliche Akkumulation bewirkte massenhafte Freisetzung. Permanente wechselweise Abstoßung und Anziehung von Arbeitskräften kennzeichnen den krisenförmigen Verlauf der kapitalistischen Akkumulation überhaupt. Konjunkturkrisen, die Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit mit relativ immer weniger Arbeitern, sprunghaft verlaufende Veränderungen in der Produktivkräfte- und Branchenstruktur sind nur möglich, wenn eine jederzeit mobilisierbare Arbeitskräftereserve existiert. Gegen die Bevölkerungstheorie von Malthus polemisierend, zeigte Marx, dass der Kapitalismus die relative Übervölkerung produziert. Als verschiedene Existenzformen der Übervölkerung sah er: die fließende (sich ablösende Arbeitergenerationen), die latente (noch nicht mobilisierte Landbewohner), die stockende Übervölkerung (Hausarbeit, unregelmäßige, prekäre Beschäftigung) und den Pauperismus.

Die großen Unterschiede in Entlohnung und Status zwischen diesen Segmenten des Arbeitsmarkts nutzten die Kapitalisten immer, um die Konkurrenz der Arbeiter untereinander zu steigern und die Löhne zu drücken. Nicht wenige der Überzähligen, meist Männer, suchten, wie Marx im ‚Kapital‘ beschrieb, den Ausweg in der Migration. Er schilderte, wie die Kapitalisierung der irischen Landwirtschaft durch englische Landlords die latente Übervölkerung in Irland freisetzte. Millionen Überzählige wanderten in die USA aus. Auch an England lieferte Irland „neben Korn, Wolle, Vieh, militärische und industrielle Rekruten“. Als Funktionär der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) unterstützte Marx den Befreiungskampf Irlands. In England wirkte er für die Überwindung des „Antagonismus“ zwischen englischen und irischen Arbeitern, den die Bourgeoisie, um ihrer Herrschaft willen, künstlich schüre.[8]

Marx sah Irland als „Bollwerk des englischen Landlordismus. Wenn er in Irland fiele, so fiele er auch in England.“ In Irland falle er leichter, „weil sich der ökonomische Kampf dort (…) auf den Grundbesitz konzentriert, weil dieser Kampf dort gleichzeitig ein nationaler ist und weil das Volk dort revolutionärer und erbitterter ist als in England.“ Irland diene der englischen Regierung als Vorwand, eine große stehende Armee zu unterhalten, welche im Bedarfsfalle auf die englische Arbeiterklasse losgelassen werde. Es wiederhole sich, was schon das alte Rom gezeigt habe: „Das Volk, das ein anderes Volk unterjocht, schmiedet seine eigenen Ketten.“[9] Der Klassenkampf im eigenen Land war am gemeinsamen Emanzipationsinteresse der internationalen Arbeiterklasse und der unterdrückten Völker auszurichten.

Zweck der IAA war neben der Entwicklung internationalistischer Politik die Koordinierung ökonomischer Kämpfe, um ein Gegeneinanderausspielen der Arbeiter verschiedener Nationen zu vereiteln. Bekämpft wurden „Intrigen der Kapitalisten, die bei Arbeitseinstellungen und Aussperrungen die Arbeiter fremder Länder als Werkzeuge gegen die Arbeiter ihrer eigenen Länder“ missbrauchten und die, „sowohl fremde Arbeiter kommen als auch die Waren dort anfertigen“ ließen, „wo die Arbeitslöhne billiger“ waren. Ziel der IAA war, „dass die Arbeiter der verschiedenen Länder sich nicht nur als Brüder und Kameraden der Emanzipationsarmee fühlen, sondern auch als solche handeln.“[10] Dazu sprachen die nationalen Sektionen sich ab. Koordinierte Streiks, Aktionen französischer und deutscher Arbeiter gegen den Krieg 1870/71, die Solidarität mit der Kommune zeigten die internationale Handlungsfähigkeit der IAA.

Die Linken der Zweiten Internationale orientierten sich an Marx, Engels und der IAA. Auf dem Stuttgarter Sozialistenkongress 1907, der über die Kolonialfrage, den Militarismus, das Verhältnis Partei-Gewerkschaften, die Arbeitsmigration und das Frauenwahlrecht beriet, setzten die Linken marxistische Positionen in der Migrationsfrage durch. Die Stuttgarter Resolution zur Ein- und Auswanderung stellte einleitend fest:

„Die Ein- und Auswanderung der Arbeiter sind vom Wesen des Kapitalismus ebenso unzertrennliche Erscheinungen wie die Arbeitslosigkeit, Überproduktion und Unterkonsum der Arbeiter. Sie sind oft ein Mittel, den Anteil der Arbeiter an der Arbeitsproduktion herabzusetzen und nehmen zeitweise durch politische, religiöse und nationale Verfolgungen anormale Dimensionen an.“

Mittel der Gegenwehr gegen die der Arbeiterklasse aus der Einwanderung drohenden Folgen sah die Resolution keinesfalls „in Ausnahmemaßregeln … insbesondere nicht in einer Beschränkung der Freizügigkeit“. Die Pflicht der organisierten Arbeiterschaft sei, „sich gegen die im Gefolge des Massenimportes unorganisierter Arbeiter vielfach eintretende Herabdrückung ihrer Lebenshaltung zu wehren“: im Kampf um Arbeitszeitverkürzung, um Minimallöhne, um die „Abschaffung aller Beschränkungen, welche bestimmte Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalt in einem Lande und den sozialen, politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen oder sie ihnen erschweren, um weitestgehende Erleichterung der Naturalisation.“ Aufgaben für das Land der Einwanderung und das der Auswanderung wurden formuliert, darunter auch die Forderung nach mehr Sicherheit der Reisewege, die durch Inspektoren aus den Reihen der Gewerkschaften zu kontrollieren seien.[11]

Lenin zufolge entsprach die Stuttgarter Resolution zur Ein- und Auswanderung „durchaus den Forderungen der revolutionären Sozialdemokratie“. Der „Geist des Aristokratismus unter den Proletariern einiger ‚zivilisierter‘ Länder, die aus ihrer privilegierten Lage gewisse Vorteile ziehen und daher geneigt sind, die Forderungen internationaler Klassensolidarität zu vergessen“ habe in der Kommission noch eine Rolle gespielt, aber keinen Eingang in die Resolution gefunden, schrieb er in einem Artikel über den Sozialistenkongress.[12] Auch Clara Zetkin assoziierte in der Frauenzeitschrift ‚Die Gleichheit‘ die Befürworter von Einwanderungsbeschränkungen mit dem Begriff der Arbeiteraristokratie. Doch der Kongress habe „die Solidarität der Klasse als eines großen Weltbundes des Proletariats aller Rassen und Nationen hochgehalten, wie er in der Kolonialfrage den großen Weltbund der gleichen und verbrüderten Menschheit aller Kulturstufen und Weltteile zum Triumph geführt“ habe.[13]

‚Geist des Aristokratismus‘ versus internationale Klassensolidarität

Im ersten Weltkrieg lief die Mehrheit der sozialdemokratischen Parlamentarier mit der Bewilligung von Kriegskrediten ins Lager der bürgerlichen ‚Vaterlandsverteidiger‘ über. Dies ging mit dem Abrücken vom Internationalismus in der Kolonial- und in der Einwanderungsfrage einher. Nur die Linken, später die Kommunisten, blieben bei den von Marx, Engels, der IAA und dem Stuttgarter Kongress zur Arbeitsmigration entwickelten Positionen. Die Spaltung der Arbeiterbewegung vertiefte sich auf dem Boden der sozialen Spaltung der Arbeiterklasse, in der Lenin eine Erscheinung des Imperialismus sah, ermöglicht durch die Monopolprofite des Finanzkapitals der imperialistischen Großmächte, aus denen für die Oberschicht der Arbeiterklasse etwas abfiel. Die Oberschicht bildete „die Mitgliedermasse der Genossenschaften und Gewerkschaften, der Sportvereine und der zahllosen religiösen Sekten.“

In der Unterschicht der Arbeiterklasse, die politisch für die bürgerliche Demokratie „nicht ins Gewicht fiel“, war der Anteil schlecht bezahlter Immigranten hoch.[14] Dabei machten sich, wie Lenin in der Diskussion zur Revision des Parteiprogramms 1917 betonte, die Ausbeuter der ‚zivilisierten‘ Länder besonders die Rechtlosigkeit der importierten Arbeiter zunutze, um die Löhne zu drücken. Er warnte, dass die Eigenart des Imperialismus in jenen reichen Ländern, die viele fremde Völker ausplünderten und einen verhältnismäßig großen Teil ihrer Bevölkerung zu Teilnehmern an der Aufteilung der imperialistischen Beute machten, die Entstehung tiefgehender revolutionärer Bewegungen erschwere.[15] Um als Arbeiterbewegung Handlungsfähigkeit und Schlagkraft zu erlangen, war der Kampf gegen die Vertiefung sozialer Spaltungen, gegen Prekarität, für die rechtliche Gleichstellung und die Anhebung der sozialen Lage gerade auch der Unterschichten der Arbeiterklasse zu führen.

Nach dem Ersten Weltkrieg waren aufgrund von Heeresdemobilisierungen, Flüchtlingen, Heimkehrern, Vertriebenen, Umsiedlern, angesichts neuer Staatenbildungen und des nationalen Wiederaufbaus genügend Arbeitskräftereserven in den kapitalistischen Ländern verfügbar. Zwischen den Weltkriegen ließ die Migration nach. Während des Zweiten Weltkriegs wurden im Großdeutschen Reich 13,5 Millionen aus besetzten Gebieten verschleppte Arbeitskräfte, Gefangene und Häftlinge von Konzentrationslagern als Zwangsarbeiter in Industrie und Landwirtschaft eingesetzt. Nach dem zweiten Weltkrieg importierten frühere Kolonialmächte wie Frankreich und Großbritannien massenhaft migrationswillige Arbeitskräfte aus ihren ehemaligen, nunmehr politisch selbstständigen oder sich noch befreienden Kolonien.[16]

Die Bundesrepublik Deutschland warb von 1949 bis zum Mauerbau 1961 über 2,7 Millionen vorwiegend gut ausgebildete Fachkräfte und Ärzte aus dem Arbeitskräftefond der DDR ab. Daneben vereinbarte sie ab 1955 mit südeuropäischen Staaten zeitlich befristete Importe von ‚Gastarbeitern‘. Nach 1961 stieg auch die Zahl dauerhafter Einwanderer bis es 1973 aufgrund der einsetzenden Überproduktionskrise zum Anwerbestopp kam.[17] Die nächste große Welle der Zuwanderung in die BRD setzte Anfang der 1990er Jahre nach der Abwicklung der DDR und dem Kollaps des Sozialismus in Mittel- und Osteuropa ein. Infolge der Deindustrialisierung des früheren DDR-Gebiets wanderten bis Mitte der 1990er Jahre 1,4 Millionen in den Westen ab. Nach 2000 nahm die Westwanderung meist gut qualifizierter junger Frauen und Männer erneut Fahrt auf. In den neuen Bundesländern setzte Überalterung ein.[18]

Die EU-Osterweiterung erleichterte die Arbeitsmigration aus der östlichen Peripherie in die reichen Kernländer der EU. Nach dem Wegfall von Beschränkungen stieg die Zuwanderung nach Deutschland ab 2011 spürbar an, mit Rumänien, Polen und Bulgarien als wichtigsten Herkunftsländern. Hinzu kamen Aussiedler aus Russland. Die Eurokrise, die Austeritätspolitik und die hohe Arbeitslosigkeit in der südlichen EU-Peripherie ließen Italien, Griechenland und Spanien unter die 10 wichtigsten Herkunftsländer aufsteigen. Ende 2018 machten Angehörige anderer EU-Staaten 44 Prozent der insgesamt knapp 11 Millionen sich in Deutschland aufhaltenden Ausländerinnen und Ausländer aus. Von im Jahr 2018 etwa 635000 Zuzügen aus EU-Staaten kamen 78 Prozent aus der östlichen und 13,6 Prozent aus der südlichen Peripherie.[19]

Zwischen 2011 und 2016 stieg die Zuwanderung nach Deutschland besonders stark an. 2015 erreichte der Wanderungsüberschuss[20] erstmals 1,1 Millionen. Neben der EU-Erweiterung trugen vor allem Flüchtlinge aus Syrien, Irak, Afghanistan dazu bei, das heißt, aus Ländern, die mit Kriegen, Sanktionen und Regime-Change-Versuchen der NATO-Staaten überzogen wurden. Zwar misslang die Rekolonisierung der Länder, doch die hinterlassenen Zerstörungen und Verwerfungen wurden Antriebsfaktoren für große Fluchtbewegungen. Der Anteil von Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten am Wanderungsüberschuss Deutschlands stieg von knapp einem Fünftel 2011-2014 auf die Hälfte 2015/16. Der Anteil europäischer Migranten am Wanderungsüberschuss sank von 70 Prozent 2011-2014 auf 30 Prozent 2015/16.[21]

Umstände, die Menschen aus den Auswanderungsländern treiben, bezeichnet die Migrationsforschung als Push-Faktoren. Faktoren, die Menschen zu den Ländern der Einwanderung hinziehen, als Pull-Faktoren. Lenin sah 1913 Rückständigkeit und niedrige Löhne in den Auswanderungsländern als Push-Faktoren, nannte aber auch politische Ereignisse, wie das Scheitern der Revolution von 1905. Als Pull-Faktoren sah er höhere Löhne und bessere Lebensverhältnisse in den ökonomisch und technologisch fortgeschritteneren Ländern. Da die Ungleichmäßigkeit in der Entwicklung von Unternehmen, Branchen und Ländern durch Privateigentum und Konkurrenz angeheizt wird, kann sie unter dem Kapitalismus nicht verschwinden. Vielmehr haben sich seit Lenins Zeiten Krisenhaftigkeit und Ungleichmäßigkeit noch verstärkt. Dazu trug bei, dass die Bourgeoisien der kapitalistischen Hauptländer als Ausweg aus der Weltwirtschaftskrise 1974/75 schrittweise zum Neoliberalismus übergingen.

Akkumulation durch Enteignung

Der Geograph und Ökonom David Harvey erweiterte den Begriff der ursprünglichen Akkumulation zur Akkumulation durch Enteignung, die dem Kapitalismus vorausging, aber auch in seinen späteren Stadien präsent ist. Im Neoliberalismus gewann sie überragende Bedeutung. Harvey fasste darunter, neben der fortlaufenden Enteignung nicht konkurrenzfähigen Kleineigentums, Vorgänge wie die Biopiraterie von genetischen Ressourcen, die Patentierung geistigen Eigentums, die Privatisierung einst staatlicher Einrichtungen in kapitalistischen Ländern, den Ausverkauf von Staatsbetrieben ehemals sozialistischer Länder, Entwertungsschübe von Kapital in abhängigen Ländern, die Plünderung von Ersparnissen durch Institutionen des Finanzkapitals. Auf internationaler Ebene ist nach Harvey „das Hauptvehikel der Akkumulation durch Enteignung […] die erzwungene Öffnung der Märkte überall auf der Welt durch den institutionellen Druck von IWF und WTO, unterstützt durch die Macht der USA (und in geringerem Maße Europas)“.[22] Marktöffnung nützt immer dem Stärkeren.

Der Aufkauf von Fischfangrechten der EU vor den Küsten Afrikas, die Vernichtung von Subsistenzwirtschaften in Afrika infolge von EU-Freihandelsabkommen, das ‚Landgrabbing‘ großer Agrarkonzerne sind Formen der Akkumulation durch Enteignung. Sie sind zugleich Push-Faktoren für Migration. Zudem richten sich Kriege, Militärinterventionen und Regime-Change-Versuche meist gegen Länder, die sich der erzwungenen Marktöffnung für das Monopolkapital der Großmächte verweigern und einen eigenständigen Entwicklungsweg suchen. Dank der militärischen Überdehnung der USA und des Aufstiegs Chinas und Russlands stieß die neoliberale Globalisierung mittlerweile an Grenzen. Wirtschaftssanktionen treten immer öfter an die Stelle militärischer Interventionen. Doch auch sie haben tödliche Folgen und verstärken die Push-Faktoren für Fluchtbewegungen. Dazu lösen zunehmend ökologische Zerstörungen durch Klimawandel und Wetterextreme Migrationsbewegungen aus.

Die weitaus meisten, die vor Kriegen fliehen, suchen in Nachbarländern Schutz. 2018 standen laut UN-Flüchtlingshilfe Syrien und Afghanistan an der Spitze der Herkunftsländer, die Türkei und Pakistan an der Spitze der Aufnahmeländer. 84 Prozent der weltweit 70 Millionen Flüchtlinge waren in Entwicklungsländern untergebracht. Von den reichen Industriestaaten war nur Deutschland unter den ersten 10 Aufnahmeländern. Der Grund war die Aufnahme von ca. 1 Million Flüchtlingen 2015/16. Sie trafen in Deutschland auf die ‚Willkommenskultur‘. Dabei handelte es sich ursprünglich um einen politisch-programmatischen Begriff der Arbeitsmarktpolitik. Anwerbeversuche unter hochqualifizierten Fachkräften seit der Regierung Schröder waren relativ erfolglos geblieben. Geworbene zogen wieder weg. Deutsche Hochschulabsolventen zog es zunehmend ins Ausland. Ein Mangel an Hochqualifizierten wurde prognostiziert.

Arbeitsmarkt- und Migrationsforscher, Behörden, Verbände, Stiftungen, Regierungen in Bund und Ländern, Medien, Parteien, Institutionen arbeiteten deshalb seit Jahren daran, eine ‚Willkommenskultur‘ zu etablieren. Während der Flüchtlingskrise wurde die utilitaristische Begründung der ‚Willkommenskultur‘ durch die humanitäre Zwecksetzung der Hilfe für Asylsuchende erweitert und es gelang, große Hilfsbereitschaft in Bevölkerung und Zivilgesellschaft zu mobilisieren. Unter dem Dach des Kampagnenschlagworts entstanden reale Gastfreundschaft und Menschenfreundlichkeit. Allerdings war eine Kehrseite der Kampagne, dass reale Probleme, die eine Massenzuwanderung in den klammen Kommunen auslöst, lange ausgeblendet blieben. Eine Sozialpolitik, die eine verschärfte Konkurrenz um Wohnungen, Jobs und Sozialleistungen abgefedert hätte, war nicht vorgesehen. Daher folgte bald Ernüchterung.[23]

In allen reichen Ländern benutzen Rechtspopulisten die kulturellen und religiösen Unterschiede zwischen Einheimischen und Migranten, um Vorurteile, Angst, Neid und Hass zu schüren und damit bei Wahlen zu punkten. Indem sie Migranten zu Sündenböcken für soziale Probleme machen, lenken sie vom nötigen Kampf um soziale Verbesserungen für alle ab, der gegen das Kapital zu führen ist. Rechte Gewalt, Terror, Morddrohungen und Anschläge bedrohen die Ausübung bürgerlich-demokratischer Rechte. Zurzeit braucht das Großkapital in den Hauptländern keine faschistische Herrschaftsform, aber mit den Parteien und Vereinen des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus wächst eine prokapitalistische, antidemokratische Reserve heran, die in Krisenzeiten gegen die gesamte Arbeiterbewegung mobilisierbar ist.

Unter dem Eindruck realer Probleme der Migration und rechtspopulistischer Wahlerfolge streiten auch Linke über die Stellung zur Migration. Eine linke ‚Kritik der Migration‘ legte der österreichische Historiker Hannes Hofbauer vor. Jenen Migrationsforschern, die Migration als menschliche Konstante verklären, entgegnete er, seit der neolithischen Revolution sei die Sesshaftigkeit die Regel und die Migration die Ausnahme. Knapp 1 Prozent der Weltbevölkerung wandern jährlich aus. 2017 machte der Bestand der als Migrantinnen und Migranten lebenden Menschen 3,3 Prozent der Weltbevölkerung aus.[24] Migration als ‚conditio humana‘ zu stilisieren, läuft auf die ideologische Bedienung neoliberaler Mobilitätsanforderungen hinaus, da hat Hofbauer Recht. Massenmigration ist keine menschliche Konstante, wohl aber auch heute eine gesetzmäßige Begleiterscheinung der kapitalistischen Akkumulation.

Eine linke Kritik der Migration?

Die Kapitalisten benutzen die Migration, um das Lohnniveau zu drücken, wie sie jede Differenzierung unter den Lohnabhängigen nutzen, zum Beispiel die Unterschiede zwischen den Geschlechtern oder den Generationen. Jüngere werden Älteren vorgezogen, viele Frauen und Ausländer in prekäre Beschäftigungsverhältnisse gedrängt, Frauen verdienen weniger als Männer, Ausländerinnen am wenigsten. Das ist Klassenkampf von oben. Seine Abwehr ist nur durch ökonomischen und politischen Klassenkampf von unten möglich. Nur auf diesem Weg lassen sich gute Beschäftigungsverhältnisse für alle erkämpfen. Die These, erst die Migration bewirke die Teilung des Arbeitsmarkts[25], ist nicht korrekt. Die Spaltung des Arbeitsmarkts hat innere Ursachen. Einen völlig homogenen Arbeitsmarkt hat es im Kapitalismus nie gegeben.

Die ‚30 goldenen Jahre des Kapitalismus‘ von 1945 bis Mitte der 1970er Jahre gelten als Phase hoher sozialer Standards, an der die neoliberale Gegenwart oft gemessen wird. In jener Zeit gab es für die Arbeiterbewegung ein national und international günstiges Kräfteverhältnis. Nach der Krise 1974/75 begann der Sozialabbau. 1984 öffnete die Niederlage im Kampf um die 35-Stunden-Woche den Weg für die ‚Flexibilisierung‘. Die Hauptschübe des Sozialabbaus, der Prekarisierung und des Abbaus der Normalarbeitsverhältnisse erfolgten im Zuge der Deindustrialisierung der DDR und der Agenda 2010. Massenimmigration verschärft die Konkurrenz um Wohnungen und begrenzte Sozialleistungen. Doch auch hier liegen die Ursachen primär in der inneren Entwicklung. Der neoliberale Umbau brachte den sozialen Wohnungsbau zum Erliegen, ging mit Privatisierungen und Sozialstaatsabbau auf allen Gebieten einher. Nicht die Migration bedroht sozialstaatliche Standards. Sofern das behauptet wird, lenkt es von der Wahrheit ab, dass Rechte der Lohnabhängigen immer gegen das Kapital und seinen Staat verteidigt werden müssen. Allein das Kräfteverhältnis im Klassenkampf entscheidet darüber, wie sicher soziale Rechte in einem Land sind.

Hofbauer thematisiert zu Recht die negativen Auswirkungen, die massenhafte Migration auch in den Herkunftsländern hinterlässt: Wenn große Teile der jungen arbeitsfähigen, oft gut qualifizierten Bevölkerung ohnehin rückständige Länder verlassen, vermindern sie ungewollt deren Potenzen, aufzuholen, so dass der Rückstand weiter wächst. Bildungsinvestitionen gehen für das Herkunftsland verloren (Braindrain). Bevölkerungsüberalterung begünstigt Desinvestition, Stagnation, weitere Verarmung. Auch hier ist aber klarzustellen: Die Migration kann das Problem verschärfen, ist aber nicht seine Ursache. Ursache ist die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung von Unternehmen, Branchen und Ländern. Eine Konkurrenzwirtschaft wird diese Ungleichmäßigkeit immer wieder hervorbringen. Im Interesse der Arbeiterklasse liegt sie nicht.

Im nationalen und internationalen Interesse der Arbeiterklasse liegt die gleichberechtigte Kooperation der Nationen zum gegenseitigen Nutzen anstelle der Konkurrenz mit dem Ziel der Unterwerfung der Schwachen durch die Starken. Die ökonomische Dominanz Deutschlands über die Länder der südlichen und östlichen Peripherie der EU liegt ebenso wenig im Interesse der Arbeiterklasse, wie die Frontstellung der EU gegen Russland und China. Der Kampf um Einflusssphären auf den verschiedenen Kontinenten findet im Interesse der konkurrierenden, transnational agierenden Großkonzerne der imperialistischen Hauptmächte statt. Im Interesse der Arbeiterklasse läge es, Ungleichmäßigkeit in der Entwicklung und Ungleichheit in den Lebensverhältnissen zu vermindern, für die Angleichung nach oben zu kämpfen.

Die praktizierte Flüchtlingsabwehr einer ‚Festung Europa‘ macht die EU noch reaktionärer als sie ohnehin ist. Das repressive Grenzregime ist Teil der EU-Militarisierung. Kramp-Karrenbauer begründete ihren Vorstoß für einen Militäreinsatz in Nordsyrien u.a. mit der Flüchtlingsabwehr, während die Türkei Flüchtlinge als politisches Druckmittel einsetzt. Der Ausbau der Grenztruppe Frontex, Stacheldrahtzäune an Außengrenzen, Tausende Tote im Mittelmeer und auf den Wegen dahin, das Verlagern von Grenzkontrollen in ‚Türsteherstaaten‘ wie die Türkei und nordafrikanische Staaten, die Kooperation mit der libyschen Küstenwache, der Stopp staatlicher und die Behinderung privater Seenotrettung entlarven die Selbstdarstellung der EU als ‚Wertegemeinschaft‘ als Propaganda. In der BRD ging die politische Klasse angesichts des exportschädigenden Rechtspopulismus zügig von der ‚Willkommenskultur‘ zur Abschottung über und beschloss zugleich ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz.

Angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse im Klassenkampf nimmt die Ungleichheit immer noch zu. Mehr Gleichheit im Land und in der Welt zu erreichen, scheint ein fernes Ziel zu sein. Doch in vielen Ländern wird dafür gekämpft. Heutiges Handeln muss in die Richtung dieses Ziels weisen, wenn es national und international glaubwürdig und mobilisierend sein soll. Wie zur Zeit der IAA und zur Zeit Lenins verbietet es sich, Lösungen in Einreisebeschränkungen oder in Verschärfungen des Asylrechts zu suchen. Die vermeintliche Sicherung von Vorrechten ist ein Irrweg, der den eigenen Interessen schadet. Nur die Förderung von Klassensolidarität im Kampf gegen Imperialismus und Kapital kann mehr Rechte für alle erreichen.


[1] LW 19, S. 447; Immigration = Einwanderung, Emigration = Auswanderung

[2] LW 19, S. 449

[3] Ebenda

[4] LW 19, S. 450

[5] MEW 4, S. 466f.

[6] MEW 23, S. 183

[7] MEW 4, S. 466

[8] MEW 23, S. 998; Existenzformen der Übervölkerung: ebenda, S. 670ff.

[9] MEW 16, S. 387-389

[10] MEW 16, S. 191 und S. 526

[11] Internationaler Sozialistenkongress zu Stuttgart 18.-24. August 1907, Berlin 1907, S. 58f., 64

[12] LW 13, S. 77

[13] Clara Zetkin, Der internationale Sozialistenkongress zu Stuttgart, in: Die Gleichheit, Bd. 1, S. 360f.

[14] LW 22, S. 280ff., S. 287f.

[15] LW 26, S. 155

[16] Vgl. Hannes Hofbauer, Kritik der Migration. Wer profitiert und wer verliert, Wien 2018, S. 71ff., S.83

[17] Vgl. Hofbauer, S. 87

[18] Bernd Martens, Der Zug nach Westen, 2010, S. 3ff.

[19] Johannes Graf (BAMF), Freizügigkeitsmonitoring: Migration von EU-Staatsangehörigen nach Deutschland, Jahresbericht 2018

[20] Wanderungsüberschuss = positiver Wanderungssaldo aus Zuzügen minus Wegzügen

[21] http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/153474/themengrafik-wanderungen

[22] David Harvey, Der neue Imperialismus, Hamburg 2005, S. 178

[23] Vgl. Michael Haller, Die ‚Flüchtlingskrise‘ in den Medien, OBS-Arbeitsheft 93, 2017

[24] Hofbauer, S. 253f.

[25] Hofbauer, S. 191f.

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