Tendenzen, die die Coronakrise beschleunigt

Von Beate Landefeld

Die Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft, die sich im Zuge des neoliberalen Auswegs aus der Krise 1974/75 angehäuft haben, bestehen weiter. Die Polarisierung zwischen Arm und Reich, die Ungleichgewichte zwischen Realwirtschaft und Finanzsektor sowie zwischen Gläubiger- und Schuldnerländern wurden mit der Finanzkrise 2008 nicht abgebaut, sondern teilweise größer. Als politische Reaktion auf die Ungleichgewichte erstarkten Tendenzen des Protektionismus. Sie zeigen sich im Brexit, in Trumps Handelskonflikten und im Aufstieg rechter Kräfte in vielen Ländern. In Trumps Wirtschaftskrieg gegen China verbinden sich Protektionismus, das Beharren der USA auf der Rolle der globalen Hegemonialmacht und Systemkonkurrenz.

Globalisierung verlor an Tempo

Chronische Überakkumulation[1], weltwirtschaftliche Ungleichgewichte und Handelskonflikte bremsten das Wachstum und die Rückflüsse von Profiten, die ausländischen Direktinvestitionen und den Welthandel. Die Internationalisierung der Produktion (Globalisierung) verlor an Tempo. Laut UNCTAD wurden zwei Jahrzehnte rapiden Wachstums der internationalen Produktion mit der Finanzkrise 2008 durch ein Jahrzehnt der Stagnation abgelöst.[2] Die lockere Geldpolitik der Zentralbanken ließ die großen Vermögen anschwellen, während die Massenkaufkraft schwach blieb. In der Automobilindustrie, die in vielen Ländern noch der wichtigste Industriezweig ist, gibt es Überkapazitäten. Diese Branche macht zugleich eine Strukturkrise aufgrund neuer Produktivkraftentwicklungen durch (Digitalisierung, neue Antriebstechniken), in deren Gefolge sich die Gewichte der Wertschöpfung zugunsten von Software und IT, zu Lasten der Fertigung von Motoren und Fahrgestellen verlagern.

Schon 2019 wuchs das Welt-BIP nur noch um 2,9 Prozent. Dazu steuerten die entwickelten kapitalistischen Länder 1,7 Prozent bei, die Entwicklungs- und Schwellenländer 3,7 Prozent. China wuchs um 6,1 Prozent, die USA um 2,3, die Eurozone um 1,2 Prozent (darunter Frankreich um 1,3 und Spanien um 2 Prozent). Italien (2019 plus 0,3) rutschte im 4. Quartal in die Rezession. In der Bundesrepublik gab es 2019 ein Wachstum von 0,6 Prozent, wobei im 2. und 4. Quartal die Wirtschaft stagnierte. Autoexporte und Aufträge im Maschinenbau brachen ein („Industrierezession“). Dass es in der BRD nicht schon 2019 zur Rezession, sondern nur zur „Konjunkturdelle“ kam, lag an der Binnennachfrage und einer hohen Erwerbstätigenquote, vor allem im Dienstleistungssektor und im Baugewerbe. Die Coronakrise traf im März 2020 auf eine schon geschwächte, auf eine Rezession zutreibende Weltwirtschaft.[3]

Um das Virus einzudämmen und die Pandemie unter Kontrolle zu bringen, ergriffen die Staaten „nichtmedizinische Maßnahmen“ zur Minderung von Kontakten und Unterbrechung von Infektionsketten, wie sie als Präventionsmittel bei Pandemien üblich sind, solange Medikamente oder Impfstoffe fehlen. Staatliche und spontane Kontakt- und Mobilitätsbeschränkungen lösten ökonomisch einen krassen Nachfrageeinbruch und den Absturz in die Rezession aus. Tiefpunkte waren in China das 1. Quartal, in der EU und den USA das 2. Quartal (April) 2020. Nach den Lockdowns setzte eine leichte Erholung ein, doch Prognosen stehen unter dem Vorbehalt, dass das Virus ohne weitere Lockdowns kontrollierbar bleibt und es zu keiner „zweiten Welle“ exponentieller Ausbreitung kommt. In den USA sah man, dass bei ansteigenden Infektionszahlen auch Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung sofort wieder zurückgehen. Unter den Ländern mit besonders hohen Todeszahlen sind reiche kapitalistische Länder wie die USA, Großbritannien, Italien, Belgien und große Schwellenländer wie Brasilien, Indien und Mexiko. Impfstoffe, die ein Ende der Pandemie bringen sollen, sind in Arbeit, werden aber erst 2021 massenhaft zum Einsatz kommen.

Unterschiedliche Krisenverläufe

Der Absturz des Welt-BIP wird 2020 mit voraussichtlich minus 3 Prozent tiefer als 2009 (minus 0,1 Prozent) und der tiefste Sturz seit 100 Jahren. Wie 2009 sind Länder und Regionen 2020 ungleichmäßig betroffen. 2009 sank das BIP der entwickelten kapitalistischen Länder um minus 3,4 Prozent, Schwellen- und Entwicklungsländer wuchsen um 2,8 Prozent. 2020 werden für die entwickelten Länder minus 6,1 Prozent vorhergesagt, für die Entwicklungsländer minus 1 Prozent. Die entwickelten kapitalistischen Länder werden somit 2020 wie schon 2009 am stärksten getroffen. Die Entwicklungsländer brechen zwar nicht so stark ein, aber stärker als 2009. Vor allem vom Rohstoffexport abhängige Ökonomien, die im Jahrzehnt vor der Krise bereits unter Preisverfall aufgrund der Stagnation der Weltwirtschaft gelitten haben (Lateinamerika, Südafrika), geraten in noch größere Schwierigkeiten. Dagegen erreichen China und Indien 2020 ein leicht positives Wachstum. Die USA, die EU und Japan holen erst 2022 ihr Vorkrisenniveau wieder ein.[4]

China sackte im 1. Quartal 2020 um 6,8 Prozent ins Minus, im zweiten Quartal legte es 3,2 Prozent zu.[5] Für das Gesamtjahr prognostiziert der IWF ein kleines Plus von 1,2 Prozent. In China brach die Epidemie zuerst aus. Dort wurde sie auch zuerst effektiv unter Kontrolle gebracht. Bei der Entwicklung von Impfstoffen gegen das neue Virus liegt China vorn. Chinas ökonomische Erholung stützt sich vor allem auf die Wiederbelebung der inneren Nachfrage und auf den Dienstleistungssektor. Die nach der Weltwirtschafts- und Finanzkrise 2008 forcierte Umorientierung der Unternehmen auf den Binnenmarkt wurde durch die Coronakrise verstärkt. Die Digitalisierung erhielt in Handel, Bildungswesen und Gesundheitssektor einen starken Schub. Die Erholung soll zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele der UN beitragen.[6] Chinas Belebung hilft auch der Weltwirtschaft, wieder auf die Beine zu kommen. So meldeten die deutschen Autokonzerne schon für April, dem Tiefpunkt in der BRD, wieder steigende Absätze in China. Das Wachstum ist allerdings auch in China gebremst und störanfällig, solange die Pandemie international nicht bewältigt ist und Lieferketten in vielen Ländern noch nicht wieder zuverlässig funktionieren.

In absoluten Zahlen sind die USA das Land mit den meisten Todesopfern im Zusammenhang mit Covid-19 (August 2020). Gründe sind die anfängliche Unterschätzung der Seuche durch das Weiße Haus und Regierungen von Einzelstaaten, mangelhafte Gesundheitsversorgung und prekäre Lebensverhältnisse eines erheblichen Teils der Bevölkerung. Der Niedriglohnsektor wuchs unter Trump. In ihm arbeiten überproportional viele schwarze und hispanische Lohnabhängige, deren Bezahlung für das Leben nicht reicht. Sie können sich Mieten, einen Arztbesuch und krankheitsbedingtes Fernbleiben von der Arbeit oft nicht gleichzeitig leisten und sind der Seuche wehrlos ausgeliefert. Ökonomisch verzeichneten die USA im 2. Quartal einen Rückgang des Wachstums um 9,5 Prozent. Am bisherigen Tiefpunkt der Krise (April) stiegen die Erwerbslosenzahlen auf bis zu 50 Millionen. In der Protestbewegung nach dem Mord an George Floyd entlud sich nicht zuletzt auch die soziale Unzufriedenheit mit dieser Lage. Zugleich profitierten besonders die Milliardäre der IT-Konzerne von der Pandemie. Zwecks Ablenkung von inneren Missständen verschärfte Trump seine Attacken gegen China. Im August 2020 war in den USA weder die Kontrolle über die Pandemie noch die relative Stabilisierung der Ökonomie erreicht.

In der Eurozone sank das BIP im 2. Quartal 2020 um 12,1 Prozent (Spanien minus 18,5 Prozent, Frankreich minus 13,8 Prozent, Italien minus 12,8 Prozent). Deutschland verzeichnete minus 10,7 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Die Gesundheitssysteme der EU-Länder sind durch Privatisierungen und die von Berlin und Brüssel in der Eurokrise verordnete Austeritätspolitik geschwächt und waren auf Pandemien nicht vorbereitet. Deutschland reagierte auf den Mangel an Schutzkleidung zunächst mit einem Exportverbot. Als in Italien Ärzte und Pfleger aus China, Kuba und Russland eintrafen, erhöhten EU und NATO demonstrativ ihre Hilfen für die am stärksten von der Pandemie betroffenen EU-Länder.[7] Die Coronakrise forcierte die ungleichmäßige Entwicklung in der EU. Sie traf die Länder Südeuropas am frühesten und heftigsten. Die Tourismusbranche, die für die Ökonomien im Süden der EU eine große Rolle spielt, gehört zu den Sektoren, die am stärksten unter der Krise leiden.

Deutsche Bourgeoisie will mehr Resilienz der EU

In der Bundesrepublik kam es am Tiefpunkt der Krise zu einem nie zuvor erlebten Ausmaß an Kurzarbeit, vor allem in der Automobilindustrie. BMW, Daimler und VW kündigten für die nächsten Jahre den Abbau Zehntausender Arbeitsplätze an. Zur Stützung von Konzernen – auch durch Staatsbeteiligung – schuf die Regierung einen 600 Mrd. schweren Wirtschaftsstabilisierungsfonds. An der Lufthansa, die am Tiefpunkt zu weniger als 10 Prozent ausgelastet war, beteiligte sich der Staat mit 20-Prozent. Der Staat stieg auch beim Impfstoffhersteller Curevac ein (Hauptaktionär Dietmar Hopp). Die 25 Mrd. Direktzahlungen und 100 Mrd. Kreditgarantien für Mittelständler waren bis Mitte August etwa zur Hälfte abgerufen. Für die Masse der Kleinunternehmer und Soloselbständigen gab es nur Millionen. 60 Konzerne beantragten bis August Staatsbeteiligungen. Im Mittelstand droht eine Pleitewelle.

Die Zahl der Erwerbstätigen sank im 2. Quartal 2020 gegenüber dem Vorjahr um 1,4 Prozent (minus 1,1 Prozent bei den Arbeitnehmern, minus 3,4 Prozent bei den Selbstständigen). Das Arbeitsvolumen sank um 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Eine Arbeitszeitverkürzung drängt sich auf. Zum Knackpunkt wird der Lohnausgleich. Hier müssten die Gewerkschaften hart bleiben. Die zurzeit riesigen Staatsausgaben retten primär Vermögenswerte der Reichen. Der Haupthebel, um die Umverteilung von unten nach oben abzubremsen, sind die Lohnkämpfe. Unternehmer und Staat nutzen die Krise, um Lasten möglichst auf Lohnabhängige, Sozialversicherungen und Rentner abzuwälzen und deren Rechte abzubauen. Zudem brechen den Kommunen Steuereinnahmen weg, die der Bund nur zum Teil ausgleicht, die für soziale und kulturelle Aufgaben sowie für höhere Löhne der Beschäftigten nötig sind.

Bis Mitte Mai bewilligte die EU-Kommission Staatshilfen in Höhe von 1,95 Billionen, von denen rund 51 Prozent allein auf die Bundesrepublik entfielen. Die Finanzkraft des deutschen Staates forciert die Ungleichmäßigkeit in der EU. Sollen eine zweite Eurokrise und der weitere Zerfall der EU vermieden werden, gilt es aber, Unternehmens- und Bankenpleiten vor allem in Italien zu begrenzen. Die Industrieverbände Deutschlands (BDI), Frankreichs (Medef) und Italiens (Confindustria) forderten im Mai eine Reaktion „von beispielloser Tragweite“. Es kam zum „Wiederaufbaufonds“, für den die EU erstmals gemeinsame Schulden aufnehmen will.[8] Das Geld soll in die von der Pandemie besonders betroffenen Länder fließen. Erstmals zeigte sich die deutsche Bourgeoisie bereit, den Grundsatz, kein Land dürfe für die Schulden eines anderen haften, zumindest zeitweise zu suspendieren, um das Risiko einer zweiten Eurokrise und des weiteren Zerfalls der EU zu verringern.

Die deutsche Bourgeoisie braucht mehr denn je eine für Handelskonflikte gewappnete, resiliente EU als „Heimatmarkt“ und Expansionsbasis. Statt nur den „Wettbewerb“ auf dem EU-Binnenmarkt zu überwachen, soll die EU künftig mehr „europäische Champions“ nach dem Vorbild von EADS fördern. Deutsche und französische Rüstungskonzerne verkündeten gemeinsame Projekte. Für den Übergang zur Elektromobilität wird eine deutsche und/oder europäische Batterieproduktion gefördert, um unabhängiger von asiatischen Herstellern zu werden. Mehr Autarkie will man auch bei der Herstellung von Medikamenten und Schutzkleidung. Nicht zuletzt braucht man das Dach der EU, um wirksame eigene Sanktionen verhängen zu können und bei Bedarf eigene Militärmissionen durchzuführen. Einige dieser Vorhaben sind nicht neu. In der Vergangenheit scheiterten sie häufig an den Rivalitäten innerhalb der EU. Neu ist die Sorge, der Ausfall der USA als westliche Führungsmacht könnte zum Dauerzustand werden, falls Trump wiedergewählt wird. Die deutsche Bourgeoisie hofft noch auf eine Wiederkehr des transatlantischen Werteimperialismus.

Entkoppelung

Trump ist dabei, chinesische IT-Konzerne wie ZTE, Huawei, Bytedance von Zulieferern abzuschneiden und von den Märkten des Westens zu vertreiben. Ziel ist die Sicherung der Monopolstellung der großen US-Internet-Konzerne, die zugleich Datensammelstellen sind, auf die auch die US-Geheimdienste Zugriff haben. Im Zuge der Digitalisierung fast aller Bereiche der Gesellschaft lassen sich tendenziell selbst gewöhnliche Konsumgüter wie Privat-PKWs als „Sicherheitsrisiko“ einstufen. Schon länger diskutiert die US-Oligarchie über eine weitgehende Entkoppelung westlicher Ökonomien von der chinesischen Digitalwirtschaft. Jüngstes Beispiel ist der politisch erzwungene Verkauf von Tiktok (USA) an Microsoft und Walmart.

In der Bundesrepublik beklagt man den Rückstand gegenüber USA und China im IT-Bereich. Inzwischen begann die Deutsche Telekom, Fakten zu schaffen und Huawei-Elemente in nicht sicherheitsrelevanten Bereichen des G5-Netzes zu verbauen. Falls Transatlantiker und Geheimdienstfreunde doch noch den Ausschluss Huaweis durchsetzen, wie in England, müssten diese Elemente wieder entfernt werden. Damit gingen 2-5 Jahre Ausbau verloren. Für die deutsche Bourgeoisie ist China einer der wichtigsten Märkte, von dem sie sich nicht entkoppeln will. Was Entkoppelung für VW bedeuten würde, beschrieb ein FAZ-Autor: „Wir können und wollen uns eine solche Situation nicht vorstellen“, so die Aussage eines VW-Managers in Schanghai.[9] VW sei auf Chinas Automarkt Marktführer. In den Vereinigten Staaten führe er die Rangliste nur bei den Strafzahlungen an. Würde sich in der US-Oligarchie die Entkoppelungs-Strategie durchsetzen, gerieten einige deutsche Konzerne unter die Räder.

Seit jeher einig ist sich das US-Establishment in der Aufrechterhaltung des Feindbilds Russland und in der Verhinderung einer deutsch-russischen Zusammenarbeit. Fast einstimmig beschlossen Republikaner und Demokraten die Sanktionen gegen Nordstream 2. Die deutschen Interessen sind andere. Die deutsche Bourgeoisie lässt sich Geschäfte mit Russland auf Dauer nicht verbieten. Schon zu UdSSR-Zeiten fand sie Wege dafür. Den Russland-Sanktionen haben sich die Energiekonzerne nur widerwillig untergeordnet. Die deutsche Bevölkerung wiederum braucht den Frieden mit Russland. Im UN-Sicherheitsrat gelang es Russland und China vor Kurzem, den Interessenunterschied zwischen EU-Eliten und US-Oligarchie zu nutzen, um die USA beim Versuch, frühere Iran-Sanktionen wieder in Kraft zu setzen, isoliert dastehen zu lassen. Iran verhandelt zurzeit mit China über einen 25-Jahres-Kooperationsvertrag.

Die internationale Vergesellschaftung der Produktion (Globalisierung) wird als eine Tendenz der Produktivkraftentwicklung auch künftig wirken, stößt aber naturgemäß an kapitalistische Schranken. Denn zum Wesen des Kapitalismus und Imperialismus gehören die private Aneignung der Ergebnisse gesellschaftlicher Produktion, Konkurrenz und Expansionsdrang. Internationale Verflechtung der Produktion macht internationale Kooperation und Koordination zum objektiven Erfordernis. Sie erhöht die Kosten und die Hemmschwelle für Aggressionsakte, hebt aber die Ursachen der Aggressivität nicht auf. Die Verflechtung ist relativ leicht umkehrbar. In den USA zeigt das gerade die erpresste Tiktok-Einverleibung durch heimische Milliardärsfamilien.

Entkoppelung / Entflechtung ist eine Gegentendenz zur Vergesellschaftung. Sabotiert wird die internationale Vergesellschaftung heute vor allem durch den Hegemonieanspruch, die exterritorialen Sanktionen, Wirtschaftskriege und Militärinterventionen der USA. Die VR China begegnet dem selbstbewusst und gewappnet. Chinas Außenminister Wang Yi fordert, die USA „müssen lernen, mit verschiedenen Systemen und Zivilisationen auszukommen, sich an eine friedliche Koexistenz anpassen und die Realität akzeptieren, dass sich die Welt in Richtung Multipolarität bewegt“.[10]

Systemwettbewerb

Chinas Öffnungspolitik wurde 1978 vom Westen wohlwollend unterstützt. Man erwartete, dass das Land früher oder später die sozialistische Orientierung fallen lässt. Daran glauben die Bourgeoisien der kapitalistischen Länder heute nicht mehr. So heißt es im Grundsatzpapier des BDI zum Umgang mit China: „Zwischen unserem Modell einer liberalen, offenen und sozialen Marktwirtschaft und Chinas staatlich geprägter Wirtschaft entsteht ein Systemwettbewerb.“[11] Wie im bürgerlichen Diskurs üblich, wird der Unterschied der Systeme an abstrakten politischen Formen festgemacht, obwohl in der Realität beide Systeme alle möglichen Formen aufweisen. Für den Systemcharakter zentral ist der Inhalt der Politik, die Frage, im Interesse welcher Klassen und Schichten sie gemacht wird. Das gilt auch im Kampf gegen Seuchen.

Ende August 2020 ist zu erkennen, dass sozialistische Länder wie China, Vietnam und Kuba, deren Existenzbedingungen ansonsten sehr unterschiedlich sind, die Krise mit deutlich geringeren Verlusten an Menschenleben bewältigen als die Länder des Kapitalismus. Pro 1 Million Einwohner gab es Ende August in Kuba 8, in China 3, in Vietnam 0,3 Covid-19-Tote. In Belgien starben bis dahin pro 1 Million Einwohner 853, in Peru 866, in Großbritannien 611, in Italien 587, in Schweden 576, in Brasilien 566, in den USA 564. Die Bundesregierung, die auf ihr Krisenmanagement sehr stolz ist, hatte Ende August 112 Tote pro 1 Million Einwohner beim RKI erfasst.[12]

In China wurde das neue Virus entdeckt. Es dauerte einige Wochen, seine Gefährlichkeit zu erkennen, aber dann ging man konsequent dagegen vor. Ein internationales Forscherteam rechnete aus, dass ohne die Abriegelung von Wuhan sich in China 700000 Menschen mehr infiziert hätten.[13] Real erreichte die Zahl der Infektionen um die 85000. Kuba half mit medizinischen Brigaden den Kampf gegen Covid-19 in vielen Ländern zu führen, während es selbst einer menschenfeindlichen US-Blockade ausgesetzt blieb. Kuba entwickelt als erstes lateinamerikanisches Land einen eigenen Impfstoff. Vietnam organisierte Rückflüge, um Auslandsvietnamesen aus 50 Ländern nach Vietnam zu holen, sie dort, wenn sie infiziert waren, in Quarantäne zu versorgen und zu behandeln. Gemeinsam ist den drei Ländern die Auffassung, dass dem Schutz des Lebens und der Gesundheit der Menschen als Voraussetzung jeglicher Gesellschaftsentwicklung oberste Priorität im Regierungshandeln zukommt.

In den Ländern des Kapitals hielt man das Virus anfangs für ein „chinesisches Problem“, das die reichen Länder nicht betrifft. Dann setzte man auf die Entstehung einer „Herdenimmunität“ durch Nichtstun. Auch Frau Merkel meinte im Frühjahr, es müssten sich 60 Prozent der Deutschen infizieren, um die Seuche zu besiegen. Atemschutzmasken, die Abriegelung von Städten galten als typisches Verhalten eines „autoritären Regimes“ oder von „Asiaten“, jedenfalls für die zivilisatorisch höherstehenden Europäer der „liberalen Demokratien“ nicht zumutbar. Erst überfüllte Intensivstationen in Norditalien und im Elsass führten zur Kehrwende der Eliten. Es gelang, die Infektionskurven abzuflachen, ohne dass die Seuche schon überall besiegt wäre. In China kann sie als besiegt gelten. Die Neuinfektionen sind seit Monaten niedrig. Für besonders gefährdete Gruppen gibt es seit Juni bereits eigene Impfstoffe.

Nach der Pandemie gilt die aufsteigende Wirtschaftsmacht China vielen auch als Gesundheitsmacht, mit der sich Kooperation und Austausch lohnen. Das reflektiert sich in vielen Studien und in medizinischen Fachzeitschriften. Die kapitalistischen Propagandaapparate reagieren äußerst empfindlich. Die ARD setzte die SWR-Dokumentation „Wuhan – Chronik eines Ausbruchs“ kurzerhand ab. Sie war zu positiv.


[1] Überakkumulation heißt nach Marx „nie etwas anderes als Überproduktion von Produktionsmitteln, Arbeits- und Lebensmitteln, die als Kapital fungieren können”. (Kapital III, MEW 25, S. 261ff.)

[2] UNCTAD, World Investment Report 2020, International Production Beyond the Pandemic, Key Messages and Overview, S. 22

[3] Vgl. Lucas Zeise, Die Weltwirtschaftskrise Corona, in: Marxistische Blätter 4-2020, S. 91

[4] IMF, World Economic Outlook, April 2020

[5] „Chinas Wirtschaft steigt im zweiten Jahresquartal“, Peking-Rundschau 16.7.2020

[6] Am 23.7.2020 gab es an der Tsinghua-Universität eine Konferenz zur grünen Wiederbelebung der Weltwirtschaft mit UN-Generalsekretär Guterres als Redner. (Auszüge in China Today, 27.8.2020)

[7] M. Gebauer / P. Müller, NATO rüstet sich für zweite Infektionswelle, Spiegel-online 2.5.2020

[8] Von den 750 Mrd. Euro des Wiederaufbaufonds sollen 390 Mrd. als direkte Zuschüsse und 360 Mrd. als Kredite vergeben werden. Parallel beschloss man den EU-Haushalt 2021-2027 von 1,3 Billionen.

[9] Hendrik Ankenbrand, Ein Planet – zwei Welten, in: FAZ.online 15.8.2020

[10] „Klarer Rahmen für chinesisch-amerikanische Beziehungen notwendig“, in: Peking-Rundschau 6.8.2020.

[11] BDI, Partner und systemischer Wettbewerber – wie gehen wir mit Chinas staatlich gelenkter Volkswirtschaft um? Grundsatzpapier des BDI vom Januar 2019, Homepage des BDI

[12] Abgerufen bei worldometers am 30.8.2020

[13] An investigation of transmission control measures during the first 50 days of the COVID-19 epidemic in China, in: Science, 8.5.2020, Vol. 368, Issue 6491, pp. 638-642

Hinterlasse einen Kommentar